Die Heimsuchung. Die schwangeren Frauen Maria (links) und Elisabeth. Foto: alamy/Smith Archive
Ultraschall vor 700 Jahren
Maria Empfängnis. Eine Bildbetrachtung.
Das Bild zu dieser Geschichte ist zwar komplett falsch gewählt, geht es an diesem Tag im Kirchenjahr doch darum, dass Anna ihre Tochter Maria empfing und nicht Maria ihren Sohn Jesus. Ein weitverbreitetes Missverständnis, dem ich immer wieder noch so gerne aufsitze.
Von Sandro Fischli
Empfängnis ist sinngemäss immer mit Geburt verbunden, so weist dieser Feiertag auch auf Weihnacht hin, ein Zeitsprung. Also ein Anlass, um auf dieses wunderbare Kunstwerk aufmerksam zu machen, umso mehr als es eben gar keinen Feiertag für die Empfängnis Jesu gibt. Empfängnis eines Kindes, sei es von Maria selbst oder Jesus oder Johannes oder Toni oder Erna, ist immer im Sinne des Wortes schicksalsträchtig.
Das Bild stellt die Begegnung von Maria mit ihrer Verwandten Elisabeth dar. Diese ist schon vor ihr schwanger geworden und die nun selbst schwangere Maria sucht sie als Vertraute auf, gleichzeitig als Helferin wie als Hilfesuchende, was nun so alles zu tun ist – einfach ein ganz existenzieller Kontakt zwischen zwei Frauen. Und so fällt auf, dass beide Frauen fast identisch aussehen, obwohl Elisabeth laut der Bibel viel älter war. Wer hier Maria und wer Elisabeth ist, wird unwichtig, es ist wie ein Archetypus der Frau, der schwangeren Frau.
Die zwei Figuren sind sich zugewandt, beide Blicke sind jedoch nach innen gerichtet, wie das bei Schwangeren in deren Versonnenheit oft so schön zu bemerken ist – eine natürliche meditative Stille. Das Bewusstsein, wortwörtlich und hier ganz bildlich dargestellt, «ein Kind unter dem Herzen zu tragen», erfüllt sie gänzlich. So sind sie gleichzeitig nach aussen, zu uns, zu ihrem Gegenüber in der Skulptur, und nach innen gewandt.
Es sind kleine Skulpturen, die Kopie hat die Masse originalgetreu übernommen, 20 cm hoch sind die zwei Figuren. Dieses Format bewirkt etwas sehr Graziles – das bemalte geschnitzte Holz wirkt fast wie Porzellan, in der Kopie noch mehr, in der mich das Fernöstliche, das im Original schon anklingt, fast noch mehr anspringt – die Darstellungen einer Tara oder Guanyin (Kwannon), von Dakinis (weibliche Schutzgottheiten) im Buddhismus – das Archetypische weiblicher Figuren in sakraler Kunst, eine Ahnung von grosser Präsenz, die still warten, aber jederzeit hervorbrechen kann. Gewisse Artemis-, Demeter- und Nymphen-Skulpturen aus der griechischen Antike lassen das auch erahnen. Hier knüpfen für mich diese Figuren an, zwischen Archaik und Klassik.
Aber das absolut Avantgardistische an diesem Kunstwerk ist, wie hier die Schwangerschaft buchstäblich zur Schau getragen wird. Das erinnert an ein medizinisches Kuriositätenkabinett, Körperschauen oder ein anatomisches Institut. Sind diese Fensterchen aufklappbar? Kann man/frau diese Püppchen herausnehmen und wieder einsetzen wie in Ferrero-Kinderüberraschungseiern? Diese bildliche Umsetzung des Mittelalters bewundere ich ungemein. Ultraschall vor 700 Jahren. Und so ein Einblick in den Körper hinein hat ja auch immer etwas leicht Gruseliges, was aber hier mit einer Überhöhung umgangen wird, indem die beiden fertig ausgebildeten Ungeborenen hinter ihren Fensterchen wie in einer Monstranz gezeigt werden, was ja zutrifft: es ist der Leib Christi. Und der von Johannes. Und der von Toni und Erna. Die beiden Figuren sind eine Monstranz.
Aber auch diese Überhöhung nimmt sich wieder zurück. Empfängnis bleibt ein Geheimnis, ein Wunder, von dem nur diese zwei Frauen hier stellvertretend wissen.
(Dieser Text mag schmerzlich anmuten für alle Frauen, denen ihr Kinderwunsch versagt bleibt. Sie haben nur ihr Herz zu tragen.)
Die Skulptur von Heinrich von Konstanz, ist 20 cm gross und aus Nussbaumholz. Sie trägt den Titel «Die Heimsuchung», ca. 1310-20. Geschaffen wurde sie für das damalige Kloster St. Katharinenthal bei Diessenhofen im Thurgau, heute ist sie im Besitz des Metropolitan Museum of Art, New York. 1906 fanden die letzten 13 Dominikanerinnen von St. Katharinenthal Aufnahme im Kloster Maria Zuflucht in Weesen. Die im Text genannte Kopie stammt vom populären Holzbildhauer Roman Gerstgrasser.