Auch die Mystik- und Frömmigkeitstraditionen in anderen Religionen beleuchtet der Universitätslehrgang. Foto: zVg
«Unterschiede aushalten und neugierig bleiben»
Eigene religiöse Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit anderen Traditionen reflektieren: Das ermöglicht ein Lehrgang in spiritueller Theologie.
Interview: Sylvia Stam
Matthias Loretan, Sie sind Präsident des interreligiösen Arbeitskreises TG. Was nehmen Sie für diese Rolle aus dem Lehrgang konkret mit?
Loretan: Ich schreibe meine Masterarbeit zum Lehrgang über den muslimischen Religionsunterricht im Thurgau. Da hilft mir das neue Wissen. Ich habe Interviews geführt mit den Parteipräsident:innen des Kantons, um mit ihnen Wege zu suchen, wie man das Thema politisch aktiv aufgreifen könnte, damit jene, die islamischen Unterricht durchführen, sich nicht nur als Opfer politischer Interventionen fühlen. Im Thurgau gab in den letzten 15 Jahren eine Verfassungsinitiative und zwei Motionen, die auf die Einstellung des islamischen Unterrichts zielten.
Wie ist das bei Ihnen, Susana Mateos?
Mateos: Der Lehrgang hat mir für meine persönliche spirituelle Entwicklung viel gebracht. Ich habe tieferen Einblick in die eigene und in andere Religionen erhalten. Ich bin sattelfester geworden im Wissen über meine eigene Religion.
Auf dem Programm stehen Begegnungen mit Gläubigen klassischer Religionen wie Judentum, Islam, Buddhismus. Menschen haben jedoch zunehmend eigene Vorstellungen von Spiritualität. Ist das dennoch sinnvoll?
Loretan: Auf historisch gewachsene Traditionen zu rekurrieren und sich in deren Spiritualität zu vertiefen, ist herausfordernd und macht Sinn. Der Lehrgang lädt dazu ein, in der Auseinandersetzung mit diesen Traditionen die eigene Spiritualität weiterzuentwickeln.
Es geht also primär um die Entwicklung der eigenen Spiritualität.
Loretan: Ja, der Lehrgang geht von einem ganzheitlichen Ansatz aus: Die kognitive Ebene wird ernst genommen. Doch die Teilnehmenden haben immer schon spirituelle Erfahrungen gemacht, sind also nicht nur Objekt von Belehrungen, sondern es geht darum, dass sie ihre Erfahrungen einbringen und im Austausch mit den anderen Teilnehmenden und den Dozierenden ins Gespräch kommen. So kann man sich weiterentwickeln.
Muss man also an etwas glauben, um von diesem Lehrgang etwas mitnehmen zu können?
Mateos: Man muss keiner Religion angehören, aber an Spiritualität interessiert sein. Es gibt Menschen, die sich als Atheist:innen bezeichnen würden, aber daran glauben, dass etwas Grösseres als sie selber existiert, die also durchaus spirituell sind. Sie nennen das Grössere bloss nicht Gott.
Ist die konkrete spirituelle Praxis auch Teil des Lehrgangs?
Mateos: Ja, das macht das Studium aus. Wir haben Übungen in Zazen, Meditation und Kontemplation gemacht, also spirituelle Techniken, die in jeder Religion vorhanden sind. Darüber hinaus haben wir spirituelle Tänze getanzt und spirituelle Musik gehört.
Gab es auch Begegnungen, in denen der Dialog nicht so einfach ist, etwa mit fundamentalistischen Gläubigen?
Loretan: Beim ganzheitlichen Ansatz ist die Religion nicht das Primäre, sondern die spirituelle Erfahrung. Hauptkriterium ist die Authentizität der Erfahrung: Wie komme ich zu glaubwürdigen spirituellen Erfahrungen? Das muss ich letztlich in meiner Biografie und in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Traditionen selber herausfinden. Das kann herausfordern, aber diese Perspektive schafft viel Offenheit und entzieht rechthaberischen Diskursen den Boden.
Inwiefern thematisiert der Lehrgang die zunehmende Säkularisierung?
Loretan: Im Modul zu Religion und Soziologie wurden Individualisierung und Säkularisierung als unumkehrbare Prozesse thematisiert, die sich bereits weiterentwickelt haben: Wir leben im postsäkularen Zeitalter. Doch die Frage, was spirituell Bestand hat, ist eher wichtiger geworden. Denn heute muss man diese selber beantworten, während man früher in eine bestimmte Tradition hineingewachsen ist und sich die Antworten im Rahmen dieser Tradition geben liess.
Wofür hat es sich absolut gelohnt, diesen Lehrgang zu machen?
Mateos: Den grössten Benefit habe ich für mich persönlich. Ich geriet während des Studiums in eine Beziehungskrise. Das war Anlass für viel Reflexion: Wer bin ich? Wie kann ich meine Gottesbeziehung vertiefen?
Loretan: Für das Zusammenleben mit Andersgläubigen habe ich gelernt, Unterschiede auszuhalten und neugierig zu bleiben. Durch weltanschauliche und religiöse Differenzen lasse ich mich nicht in Bockshorn jagen. Ich achte auf die spirituelle Glaubwürdigkeit meines Gegenübers. Und so können sich wunderbare Horizonte auftun.
Der Lehrgang kostet 15'000 Franken zzgl Übernachtungsgebühren. Ist das nicht eine Luxusausbildung?
Loretan: Auf jeden Fall. Aber es hat den Vorteil, dass man sich gut überlegen muss, ob man so viel investieren will.
Mateos: Ja, das ist ein Luxus. Aber ich habe viel mehr davon als von einem tollen Audi. (lacht)
Spirituelle Theologie im interreligiösen Kontext
Der Universitätslehrgang bietet eine Auseinandersetzung mit theoretischen und praktischen Grundfragen der Mystik, zentralen Spiritualitäten der Geschichte des Christentums, Mystik- und Frömmigkeitstraditionen von vier anderen Religionen, Fragen zu gemeinsamen religiösen Feiern und religionsverbindenden Gebeten u.a. Der Lehrgang startet im März 2025 und dauert sechs Semester. Informationen unter spirituelletheologie.ch, Bewerbungsfrist bis 2. Dezember.