Reisen im Winter verlangen etwas ab. Foto: weise_maxim / photocase.de
Unterwegs in der Kälte
Die Unbehausten wagen Winterreisen eigener Art. Teil 4 der «pfarrblatt»-Winterserie.
Die Unbehausten wagen Winterreisen eigener Art.
von Beatrice Eichmann-Leutenegger
Früh kehrt der Prager Fabrikant Siegmund Truntschka an diesem Abend heim. Seine Frau Emilka hört, wie er die Tasten des Blüthner-Klaviers anschlägt und mit rauer Stimme zu singen beginnt:
Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauss.
Das Mädchen sprach von Liebe,
Die Mutter gar von Eh, –
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee …
Emilka ahnt die Gründe, warum ihr Mann ausgerechnet Schuberts Liederzyklus «Die Winterreise» wählt, hat doch der Textdichter Wilhelm Müller den Winter zum Bild für die Enttäuschung erhoben.
Österreich liegt 1939 im Sterben, und der Ziegeleifabrik ihres Gatten droht der Konkurs. Um Siegmunds Stimmung aufzuheitern, will sie ihn mit einem feinen Nachtessen verwöhnen. Es bleibt genug Zeit für die Vorbereitung, da der Vortrag der «Winterreise» eine Stunde dauert.
Als der älteste Sohn Marek gegen Mitternacht nach Hause kommt, steht ein komplettes Nachtessen bereit, aber niemand antwortet auf sein Rufen. Wenig später bietet sich ihm ein Bild wie auf einer Theaterbühne: «Der Vater sass vor dem Klavier, der Kopf ruhte auf den Tasten, die rechte Hand hing hinunter. Vor ihm zusammengesunken die Mutter.»
Peter Lotar (1910–1986) schildert die Szene eines Doppeltods in seinem stark autobiografisch gefärbten Roman «Eine Krähe war mit mir» (1978), dessen Titel auch aus Schuberts «Winterreise» stammt. Das Buch des Schauspielers und Regisseurs, der 1939 nach dem Einmarsch Hitlers aus Prag floh, später u. a. beim Städtebundtheater Biel-Solothurn tätig war und mit seiner Familie in Ennetbaden AG lebte, führt eine Reise durch die Kälte des Exils vor.
«Eine Winterreise» nennt der Ludwigsburger Kulturwissenschafter Thomas Knubben (*1960) sein 2011 erschienenes Buch. Im Winter 2007 unternimmt er eine Wanderung vom württembergischen Nürtingen nach Bordeaux. Er folgt den Spuren des Dichters Friedrich Hölderlin (1770–1843), der im Dezember 1801 aufgebrochen war und während acht Wochen westwärts wanderte, um eine Hofmeisterstelle in der Stadt am Atlantik anzutreten.
Doch die Reise war geheimnisumwittert. Denn nach kurzer Zeit verliess der Dichter das Haus des Weinhändlers und Konsuls Daniel Christoph Meyer und traf im Juni 1802 seelisch zerrüttet wieder in Nürtingen ein. Sein Anblick erschreckte die Freunde. Was hatte ihn derart verstört?
Das Dunkel lichtet sich auch heute nur wenig: Hölderlin muss im Haus Meyer, das internationale Kontakte unterhielt, vom Sterben seiner Frankfurter Geliebten, Susette Gontard, erfahren haben. Er, der Erzieher ihres ältesten Sohnes, hatte 1798 wegen seiner Liebesbeziehung das Haus des Bankiers Gontard verlassen müssen, hatte Susette vielleicht auf der Rückreise von Bordeaux besucht, bevor sie im Juni 1802, erst 33 Jahre alt, starb. Sie wurde zur unsterblichen Geliebten in den Diotima-Gedichten und im Briefroman «Hyperion».
Thomas Knubbens literarisch-kulturgeschichtliche Reportage lässt ahnen, welchen Strapazen der Dichter damals ausgesetzt war. Wer diese Wanderung von 1500 Kilometern Länge in der strengsten Jahreszeit riskierte, musste über eine solide Konstitution verfügen. Entgegen dem tradierten Dichterbild war Friedrich Hölderlin von kräftiger Statur und lange Wanderstrecken gewohnt. An seine Mutter schrieb er am 28. Januar 1802:
… auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildniss, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette – da hab’ ich auch ein Gebet gebetet (…), das ich nie vergessen werde.
In den letzten Jahrzehnten lebte Hölderlin beim Tischlermeister Ernst Zimmer im Tübinger Turm. Er galt als psychisch «unheilbar», schrieb aber weiterhin und unterzeichnete seine Gedichte mit Namen wie Scardanelli oder Buonarotti.
Der unstete Bieler Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) litt unter Angstzuständen und Halluzinationen, sodass er sein Leben ab 1929 in Heilanstalten verbrachte. 1933 wurde der Mittellose in seinen Heimatkanton Appenzell Ausserrhoden, nach Herisau, überwiesen. Dort gab man ihm in der Heil- und Pflegeanstalt ein Zimmer «für literarische Tätigkeiten», aber er falzte wie die anderen Insassen Papiertüten und half bei Aufräumarbeiten.
Am Weihnachtstag 1956 unternahm Walser eine Wanderung in die verschneite Appenzeller Landschaft. Dabei erlitt er einen Herzschlag. Die Fotografie des toten Dichters im Schnee erinnert an den Tod Sebastians, eines armen Poeten, aus dem ersten Roman «Geschwister Tanner» (1907). Hat Walser seinen eigenen Tod vorweggenommen?
Auch ein Gedicht des gut Zwanzigjährigen lässt dies vermuten:
Ich mache meinen Gang;
der führt ein Stückchen weit und heim,
dann ohne Klang und Wort bin ich beiseit.
Der leichte Schneeflockentanz hatte Walser stets entzückt, sehnte er sich doch nach Stille, Reinheit, Liebe.