Judith Wipfler moderiert die Diskussionen im Café Theo. Foto: Vera Rüttimann

Vergebung kann befreiend sein

27.02.2024

Diskussion zum Thema Schuld im Café Theo

Im Hotel Sonne in Herzogenbuchsee fand die dritte Veranstaltung des Café Theo zum Thema Schuld statt. «Von der Schuld zur Vergebung» hiess das Thema diesmal, dem Judith Wipfler mit ihren Gästen nachging.  

von Vera Rüttimann

Kaffeetrinken und Theologisieren: Erneut tagt das Café Théo im Hotel Sonne in Herzogenbuchsee. Wieder ist der Saal voll von Menschen, die sich in intensiven Gesprächen über existentielle Themen austauschen möchten. Das Café Theo ist beliebt und die Themen scheinen offenbar einen Nerv zu treffen. Tod, Schuld, Vergebung – wohl die meisten im Saal können dazu Erlebnisse aus ihrem Leben erzählen.

Als Impulsgeber hat Judith Wipfler diesmal einen virtuellen Gast eingeladen: Moshe Baumel. Die Radiojournalistin hat ihn zuvor besucht. Sie konnte dem Basler Gemeinderabbiner spannende Antworten aus jüdischer Sicht zum Thema Schuld entlocken.

Dreimal entschuldigen

Judith Wipfler fragt Moshe Baumel: «Wann ist eine Schuld getilgt?» Der Rabbiner verweist auf den Talmud. Demnach muss sich der Täter nur dreimal entschuldigen. Wenn der Geschädigte nach dreimal nicht verziehen habe, gebe es für den Täter die nächste Möglichkeit: sich öffentlich vor mehreren Menschen zu entschuldigen. «Wenn das nicht funktioniert, sagt uns der Talmud, dann ist man seiner Pflicht nicht nachgekommen. Dann ist der andere der Schuldige», betont Moshe Baumel.


Moshe Baumel weiß auch: «Oft wissen die Täter gar nicht, dass sie etwas falsch gemacht haben. Aber wenn das Opfer schweigt, hilft das dem Täter auch nicht.» Deshalb findet es Judith Wipfler so wichtig, dass gerade die Opfer von sexueller Gewalt in der Kirche in den letzten Jahren laut geworden sind und so eine Stimme bekommen haben.

Kann man ein Volk schuldig sprechen?

Das Prinzip von «Café Theo» ist, dass die Leute nach einem Impuls an ihren Tischen miteinander diskutieren. So fragt Judith Wipfler in die Runde: «Welche Fragen habt ihr zum Thema Schuld?» Aus den Gesprächsrunden kommen Fragen wie: «Was passiert, wenn ein Volk an einem anderen Volk schuldig wird?» Und: «Was muss passieren, damit die Ukraine den Russen vergeben kann?» Moshe Baumel sagt: «Politiker und religiöse Führer sind eine Kategorie in der jüdischen Lehre. Sie haben eine große Verantwortung für das, was in einer Gesellschaft passiert.» Wenn schlimme Dinge geschehen, haben sie eine doppelte Verantwortung und müssen diese auch laut bekennen.


Wiederherstellende Gerechtigkeit

Judith Wipfler weist in ihrem Vortrag auf einen spannenden Ansatz im Umgang mit Schuld hin: die restaurative Gerechtigkeit. Restaurative Gerechtigkeit sei ein Prozess, in dem Opfer, Täter oder Mitglieder der Gemeinschaft, die von einer Straftat betroffen sind, gemeinsam und aktiv nach nachhaltigen Lösungen suchen. «Ihre Energie ist auf eine friedliche Zukunft gerichtet, nicht auf das, was in der Vergangenheit geschehen ist.» Partizipative Gerechtigkeit habe ihre Wurzeln auch in der Bibel. «Es geht um Partizipation und Empowerment von geschädigten Menschen, die resozialisiert werden sollen», so Judith Wipfler. Nach diesem Prinzip arbeiten die christlichen Gefängnisseelsorger:innen.

Amische Gnade

Was ein sensibler Umgang mit Schuld bewirken kann, zeigt auch der Film «Amish Grace - Wie auch wir vergeben», auf den Judith Wipfler hinweist: Am 2. Oktober 2006 erschoss ein Amokläufer in einer Amish-Schule fünf Mädchen und sich selbst. Was viele Amerikaner damals aber noch mehr schockierte und irritierte, war die Reaktion der Amischen: Sie vergaben dem Täter und kümmerten sich um seine Witwe. Der Film zeige, so Judith Wipfler, wie befreiend Vergebung sein kann.

 

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