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Vergessen
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Jetzt habe ich doch tatsächlich fast vergessen, den «pfarrblatt»-Artikel zu schreiben, dabei geht mir so vieles durch den Kopf und zu Herzen, zum Beispiel die Begegnung mit diesem 80-jährigen Mann, zu dem mich die Pflege während meines Wochenendpikettdiensts rufen liess.
Beim Hereinkommen wahre ich Distanz und grüsse aus der Ferne. Irgendwie sieht er nicht so aus, als hätte er auf mich gewartet. Er sitzt am Tisch vor dem Fenster, allein in einem Zimmer, wo sonst sechs Personen Platz finden, und blättert in einem Buch.
Wir mustern uns gegenseitig. Ich stelle mich vor und frage, ob ich mich einen Moment zu ihm setzen dürfe. «Wenn Sie schon da sind, dann dürfen Sie auch bleiben», meint er, und nach einer langen Zeit des Schweigens rollt eine Träne über seine Wange.
Er habe immer versucht, stark zu sein, ein Mann eben, so wie es sich gehöre, aber zutiefst in seinem Innersten spüre er eine Angst, die, so vermutet er, zurückreiche in die Jahre des Zweiten Weltkriegs – die Zeit, in die er hinein geboren wurde.
Er habe gute Eltern gehabt und früh schon arbeiten gelernt. Das Handwerk habe ihm gefallen und auf dem elterlichen Hof, den er später übernommen habe, konnte er viele Projekte verwirklichen.
Dass seine Frau sich von ihm trennte, nachdem er sich in eine Nachbarin verliebt hatte, habe sein Leben verändert. Es sei eine schlimme Zeit gewesen – ein Bruch, als wäre der Himmel über ihm eingestürzt. Später sah er diese Krise als Chance, und für ein paar Jahre fanden seine Frau und er wieder zusammen.
Schicksalshaft sei sein Leben gewesen, doch immer wieder habe er die Verbindung gespürt, die in seinem Namen enthalten sei: Benoît, der Gesegnete. Seine liebsten Menschen habe ihm der Tod abgerungen, darunter auch seinen jüngsten Sohn – und doch: «In allem, was mir widerfahren ist, fühlte ich mich gesegnet.»
Vor ein paar Tagen wurde er mit einer Diagnose konfrontiert, die eine sofortige, risikoreiche Operation nach sich zog. Seither sitzt er im Rollstuhl. Seine Beine wollen ihn nicht mehr tragen und auch sein Gottvertrauen kommt ins Wanken, das spüre ich deutlich.
Auf dem Gang kommt mir die Pflegefachperson entgegen und erklärt: «Herrn B. geht es schon seit Tagen nicht gut, aber bis jetzt hat er die Seelsorge immer vehement abgelehnt.»
Heute war es anders, denke ich, ich bin seiner Verzweiflung und auch seinem tiefen Glauben begegnet, der immer wieder, durch alle Krisen hindurch, zu ihm zurückgefunden hat.
Simone Bühler, ref. Pfarrerin und Seelsorgerin