Für den Scalabrinianer Antonio Grasso sind Migrant:innen eine Brücke zwischen Kulturen und Nationen. Foto: Ruben Sprich

«Verkündigung ist keine Einbahnstrasse»

20.05.2022

Interview mit Scalabrinianerpater Antonio Grasso

Vom 20. bis 22. Mai feiern die Scalabrini-Missionare in Bern den 25. Jahrestag der Seligsprechung ihres Gründers. Die Kirche könne von den Scalabrinianern einiges lernen, sagt Padre Antonio Grasso.

Interview: Thomas Uhland, röm.-kath. Landeskirche des Kantons Bern

Padre Antonio, seit wann sind Sie Scalabrini-Missionar?

Antonio Grasso: Dieses Jahr feiere ich mein 20-jähriges Jubiläum als Priester. Bei den Scalabrinianern bin ich seit 1987. Damals kam ich als 14-jähriger Teenager ans Gymnasium der Scalabrinianer.

Woher stammten die Scalabrinianer damals? Wie ist es heute?

Es gab Seminaristen aus Italien, aus Portugal und von den Philippinen. Während meines Theologiestudiums in Rom war unsere Gruppe dann sehr international, mit Studierenden aus Lateinamerika, Portugal und Albanien. Etwa die Hälfte von uns waren Italiener. Heute studieren kaum mehr italienischstämmige Scalabrinianer in Rom. Die meisten kommen aus Südostasien und Lateinamerika.

Wie wirkt sich das auf die Scalabrininianer aus?

Ich spüre bei einigen älteren Scalabrinianern eine gewisse Angst um die Zukunft. Wie können die neuen Generationen die Ideen Scalabrinis, unseres Ordensgründers, verstehen? Unser Charisma, unser spezieller Auftrag ist nicht fix, er wandelt sich. Das war schon immer so. Scalabrini aber muss unsere Inspiration bleiben, sonst sind wir keine Scalabrini-Missionare mehr. Unsere praktische Arbeit hingegen muss sich verändern und anpassen. Die Kongregation verändert ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Traditionen – und das ist gut so. So ist unser Generaloberer heute Brasilianer. Aber ich wünsche mir, dass mit allen Veränderungen das Charisma, unser Auftrag, bleibt. Wir müssen Scalabrinis Grundidee verstehen und behalten. Die Scalabrini-Kongregation muss auch in Zukunft als diese erkennbar bleiben, unabhängig von Kultur, Gebetsformen oder Spiritualität.

Wie verändern sich die Aufgaben der Scalabrinianer?

Einst haben sie sich nur um Menschen gekümmert, die aus wirtschaftlichen Gründen migrierten. Giovanni Battista Scalabrini liess sich vom Elend der Italiener:innen berühren, die aus der Armut nach Übersee fliehen mussten (siehe Kasten). Heute sind Scalabrini-Missionare auch für Flüchtlinge zuständig, oder für Seeleute in den Häfen. Scalabrinianer waren Pioniere auf dem Gebiet der Migrationsstudien. Heute wird das an jeder Universität gemacht. Da können sie sich neuen Aufgaben zuwenden. Wir bringen unsere Erfahrungen auf vielen Ebenen in die Kirche ein. Wir arbeiten in den Missionen, wie hier in Bern. Auch der Unterstaatssekretär im Amt für die Förderung der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung im Vatikan ist ein Scalabrinianer.

In Europa treten viele Menschen aus der Kirche aus, anderswo kommen Menschen dazu. Was kann die katholische Kirche von den Scalabrinianern lernen?

Dass sie keine nationale, sondern eine universale Kirche ist. Die Migration erinnert uns daran, dass es ein inneres Katholisch sein gibt. Im Zentrum stehen nicht Äusserlichkeiten wie Nationalität, Kultur oder Sprache, sondern allein die Taufe. Migrierende machen das Projekt Gottes sichtbar: dass alle eins seien (Joh 17, 21). Sie bilden eine Brücke zwischen Kulturen und Nationen und sind Instrumente in Gottes Hand, um die Menschen zurück zur Einheit zu bringen. Kirchen laufen Gefahr, sich als Nationalkirche zu sehen. Aber in der Kirche sollten wir nicht in Nationen denken, niemand soll ausgeschlossen werden.

Sehen wir im Moment eine Missionsbewegung zurück nach Europa?

Ich denke schon, obgleich alle Christ:innen für die Verkündigung des Evangeliums zuständig sind. Menschen, die nach Europa kommen, bringen etwas Neues mit – eine lebendigere Spiritualität zum Beispiel. Aber sie bekommen auch etwas. Verkündigung ist keine Einbahnstrasse.

Früher war sie es.

Schade, denn der Respekt vor der lokalen Kultur fehlte. Wir haben aber aus der Geschichte gelernt. Es braucht Respekt und gegenseitigen Austausch. Der Glaube steht im Zentrum, nicht die Kultur, denn dieser kann verschieden gelebt werden. Nach 14 Jahren in der Schweiz merke ich, dass ich mich verändert habe. In Italien habe ich Ökumene studiert, hier lebe ich sie. Ich habe gelernt, dass es ein Gewinn ist, wenn man voneinander lernt.

Wird der Nachfolger von Papst Franziskus ein Afrikaner sein?

Wir wissen es nicht. Vielleicht? (lacht)

Wer sind die Scalabrinianer?
Die Kongregation wurde 1887 vom Bischof von Piacenza Giovanni Battista Scalabrini gegründet. Damals sahen sich viele Familien in Italien zum Auswandern gezwungen. Die Missionare gingen mit ihren Landsleuten nach Übersee, um sie seelsorgerlich zu begleiten und moralisch zu stützen. Sie wurden «Migranten mit den Migranten», wie es in der Ordensregel heisst. Heute besteht auch eine Kongregation der Missionsschwestern sowie ein Säkularinstitut. Seit den 1960ern betreuen die Scalabrini-Missionare nicht mehr nur italienische Migrant:innen, sondern solche verschiedener Herkunft. Sie betreiben in vielen Ländern Anlaufstellen, Ausbildungsstätten, Kindergärten, Altersheime und kirchliche Einrichtungen. In Bern werden die italienische, die spanisch- und die portugiesischsprachige Mission von Scalabrinianern betreut.
20. bis 22. Mai: Festwochenende der Scalabrinianer in Bern (auf Italienisch)