Gottesdienst in der Pauluskirche mit Uli Geisler. Foto: Vera Rüttimann

Vertrautes statt Intellektuelles

Sie vergessen, dürfen aber nicht vergessen werden

«Ein ökumenischer Gottesdienst – für Demenzbetroffene und Angehörige, Gedächtniskfreaks und Vergessliche, Gewöhnliche, Spezielle» - so lautete der Titel des ökumenischen Gottesdienstes, der unlängst in der reformierten Pauluskirche in Bern stattgefunden hat. Die Botschaft lautete: Demenzkranke sind Menschen, die vergessen, aber nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden dürfen. 

Von Vera Rüttimann

Sie sind mitten unter uns. Demenz sieht man einem Menschen jedoch nicht an. Die Bänke füllen sich in der Pauluskirche. Auf der Seite stehen einige Rollatoren. Als die Glocken im markanten Turm zu läuten beginnen, schliessen viele ihre Augen. Andere halten sich an den Händen. Beim Orgel-Intro stehen sie sofort auf. Die Vorfreude ist gross.  

Dieser Gottesdienst wird von einem ökumenischen Team vorbereitet. Mit dabei sindUli Geiser, reformierter Pfarrer der Pauluskirche, Barbara Petersen, Fachmitarbeiterin Alter und Palliative Care in der katholischen Kirche Region Bern und Joanne Hauri-Sterckx, sozialdiakonische Mitarbeiterin sowie ein engagiertes ökumenisches Vorbereitungsteam.


«Niemand ist nur eine Last»

Uli Geisler, Pfarrer der reformierten Pauluskirche, kann eine bunt zusammengemischte Gottesdienstgemeinschaft begrüssen: «Das sind die, die fast jeden Sonntag in den Gottesdienst kommen. Da sind Reformierte und Katholiken. Und da sind auch Menschen, die sagen, Gott und Kirche, das ist nicht so ganz meins.» Viele in den Bänken eint, dass sie als Angehörigen einen demenzkranken Menschen in diesen Gottesdienst begleiten. Im Kirchenraum herrscht eine entspannte Stimmung. Uli Geisler betont: «Hier spüren wir: Niemand ist für den anderen nur eine Last, sondern immer auch eine Bereicherung.»


Das Vaterunser sitzt

Der Gast merkt schnell: Ungewöhnliches passiert bei Gottesdiensten für Demenzkranke in der Pauluskirche nicht. Man hört bekannte Bibelstellen und Gebete. Auch die Gottesdienstordnung ist vertraut. Es gibt auffallend wenig Worte, dafür viel Musik. Sie kommt von Lee Stalder und Sina Reise. Ergriffen lauschen die Demenzkranken zudem dem Flötenspiel eines kleinen Jungen. Der Gast erkennt: Nicht eine intellektuelle Predigt steht hier im Zentrum, sondern das Hervorrufen von Emotionen und vertrauten Ritualen. Frühe religiöse Prägungen aus der Kindheit sind bei ihnen tief verankert. Das «Vaterunser» sitzt noch immer.


«Das Leben hört nicht auf»

Nach dem Gottesdienst begeben sich alle auf den Weg zum Pfarreizentrum. Dort haben Mitarbeitende des Altersheims «Mon Soleil» eine leckere Suppe aufgetischt. Ke Ro Vallon ist noch immer bewegt von den Reaktionen der Demenzkranken im Gottesdienst: «Bei der Musik fuhr plötzlich eine Klarheit in sie hinein. Ihr Blick wurde geschärft», sagt Ke Ro Vallon, die im Gottesdienst die Lesung vorgetragen hat.  Seit einem Jahr gehört sie zum Vorbereitungsteam. Sie fügt an: «Das Leben hört nicht auf, wenn man dement ist. Betroffene können noch an vielen gesellschaftlichen Dingen teilnehmen. Sie gehören zu uns!»

Der Bernerin bedeutet dieser Gottesdienst sehr viel. Sie spricht aus persönlicher Erfahrung, wenn sie sagt: «Wenn man sieht, dass eine nahestehende Person langsam sich selbst verliert, dann macht das traurig.» Ke Ro Vallon hat eine Ausbildung in Palliativ Care. Sie ist regelmässig im Einsatz bei demenzkranken Menschen in Altersheimen. Sie hat eine Mission: «Palliativ heisst für mich Lebensbegleitung. Kranken Menschen möchte ich Möglichkeiten verschaffen, die sie erheitern.»


«Wir sind nicht allein»

An einem der Tische im Pfarreizentrum sitzt auch Barbara Petersen. Für sie ist es wichtig, dass langjährige Gottesdienstbesucher nun auch als Demenz-Betroffene in diesen weiter integriert werden. Auch Barbara Petersen bringt sich engagiert ein. Es geht ihr bei diesem Gottesdienst auch um die Angehörigen. Im Gottesdienst können nämlich ungewöhnliche Dinge geschehen: «Wenn Demenzkranke wie Kinder plötzlich aufstehen und zum Pfarrer laufen, dann sind die Angehörigen gefordert», weiss sie. Barbara Petersen betont weiter:  «Die Angehörigen tragen alles. Viele Stunden an sieben Tage pro Woche sind sie für Demenzkranke da.» Ebenso schön und wichtig sei deshalb der Austausch mit anderen Betroffenen im Pfarreizentrum: «Angehörige und Demenzkranke sehen: Ich bin mit meinem Schicksal nicht allein.»

Den Gast erinnern manche Szenen an diesem Tag an Wärme und Zuwendung, die in einer Zeit von weltweiten Krisen so notwendig sind.