Gemäss Prof. Mathias Allemand ist Verzeihen eine bewusste Entscheidung. Foto: Stefan Maurer

«Verzeihen braucht Mut und Beharrlichkeit»

Ein Gespräch mit dem Psychologen Mathias Allemand

Der Psychologe Mathias Allemand forscht an der Universität Zürich, wie sich Verzeihen auf die Persönlichkeit und das Altern auswirkt. Ein Gespräch über die Kunst loszulassen, um sich zu versöhnen – mit sich und anderen.

Interview: Anouk Hiedl

«pfarrblatt»: Wie gut können Sie verzeihen?

Mathias Allemand: Das fragen Sie am besten meinen Bekanntenkreis (lacht). Ich weiss zwar eine Menge übers Thema. Aber wenn es plötzlich real wird, fällt es mir doch nicht ganz leicht, eine zwischenmenschliche Verletzung oder Ungerechtigkeit loszulassen.

Was braucht es, um zu vergeben?

Verzeihen ist ein komplexer, facettenreicher und «willentlicher» Veränderungsprozess. Schmerzhafte Gefühle, belastende Gedanken und Verhaltensweisen werden so umgewandelt, dass man nicht mehr an einem Unrecht und seinen Folgen leidet. Um zu verzeihen, muss man starke Gefühle wie Ärger, Wut oder Groll bewusst loslassen und in neutrale oder gar positive Gefühle umwandeln.

Wie gelingt das?

Verzeihen ist meist nicht einfach. Es braucht Mut, über seinen Schatten zu springen, und Beharrlichkeit, um dranzubleiben. Ist man zu verzeihen bereit, fällt es leichter, sich auf diesen Veränderungsprozess einzulassen. Nachtragende Menschen, die sich schwer von negativen Gefühlen lösen, fällt es schwerer loszulassen. Verzeihen ist für die Bewältigung von Unrecht hilfreich – man muss sich jedoch bewusst dafür oder dagegen entscheiden. Man kann auch anders mit zwischenmenschlichen Verletzungen klarkommen, etwa indem man sie akzeptiert.

Und wie kann man belastende Gedanken verändern?

Indem man versucht, weniger Rachegedanken zu hegen und weniger über eine Verletzung zu grübeln. Auch Handlungsimpulse kann man verändern, etwa die Neigung, Verletzungen und Verursachende real oder gedanklich zu meiden. Mitunter zeigen sich später dann positive Tendenzen wie Wohlwollen gegenüber der verursachenden Person. Auch das gehört zum Verzeihen.

Wie lange dauert dieser Prozess?

Meist länger. Die Aussage «Ich vergebe dir» ist das Ende – oder der Anfang – einer intensiven Auseinandersetzung mit einer erfahrenen Verletzung und dem oder der Verursachenden. Wie lange Menschen zum Loslassen der Kränkung brauchen, ist, wie auch bei der Trauerbewältigung, sehr unterschiedlich. Es kommt auch auf die Art und Schwere der Verletzung an.

Kann man Verzeihen lernen?

Ja. Es gibt psychologische Selbsthilfeprogramme und Beratungs- oder Therapieansätze, die Menschen im Prozess des Loslassens von Verletzungen unterstützen. Das Ziel ist, dass man sich mit einer erlebten Verletzung und deren negativen Folgen bewusst auseinandersetzt und neue Perspektiven für die Zukunft findet. Verzeihen wird dabei als eine mögliche Ressource verstanden. Dabei ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff «Verzeihen» wichtig.

Inwiefern, was «ist» Verzeihen – und was nicht?

Manchmal ist es unrealistisch, Verzeihen mit Reue und Entschuldigungen zu verbinden. In einer psychologischen Beratung setzt man sich explizit mit dem Auslöser und den Folgen einer Kränkung und erfolglosen Bewältigungsversuchen auseinander. Es geht darum, Kosten und Nutzen des Verzeihens abzuwägen und sich bewusst dafür oder dagegen zu entscheiden. Es kann helfen, die verursachende Person aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, um mögliche Beweggründe für ihr verletzendes Verhalten besser zu verstehen oder sich daran zu erinnern, wie man andere gekränkt hat und danach Versöhnung erleben durfte.

Ist Vergebung immer gut?

Verzeihen ist grundsätzlich gut. Dennoch gibt es Situationen, in denen eine andere Bewältigungsstrategie besser ist. Wer etwa in einer Beziehung regelmässig psychischer oder körperlicher Gewalt ausgesetzt ist und stets «zu schnell» verzeiht, macht sich noch verletzlicher. Wenig hilfreich ist auch, den schmerzhaften Verzeihensprozess «abzukürzen», etwa indem man sich nur kurz mit sich, mit Erinnerungen und der verursachenden Person auseinandersetzen will. Oder indem man normale Verletzungsreaktionen wie Ärger, Wut oder Rachegedanken gar nicht erst zulässt.

Gibt es, wie kollektive Schuld, auch kollektives Vergeben?

Ja. Wenn Betroffene als Gruppe Unrecht erfahren haben und dieses gemeinsam verzeihen. In Ruanda, Sierra Leone oder Nordirland wurden verschiedene Wahrheits- und Versöhnungskommissionen angeregt, um kollektive Verzeihens- und Versöhnungsprozesse zwischen verschiedenen Gruppen zu fördern.

Inwiefern ist religiös motivierte Vergebung zielführend?

Religion und Spiritualität können fürs Verzeihen hilfreich sein. Versöhnungsfeiern bieten die Möglichkeit, über die eigene Fehlbarkeit und über erlebte versöhnliche Reaktionen nachzudenken. Rituale des Loslassens und Vorbilder sind oft hilfreiche Ressourcen für religiöse Menschen. Andererseits kann sich ein falsch verstandenes, religiös motiviertes Verzeihensverständnis, «anderen endlich zu verzeihen» nachteilig auf die Bereitschaft zu verzeihen auswirken – und äusserst belastend für die Psyche sein. Verzeihen ist ein Veränderungsprozess, der von innen heraus entschieden wird und nicht durch äusseren sozialen, therapeutischen oder religiösen Druck motiviert werden darf.
 

Vortragsreihe im Café Theo: «Ist niemand schuld»
Ob im Hinblick auf Kriege, die Klimakrise oder persönlich – das Thema Schuld beschäftigt. Wann soll man darauf beharren, Schuldige zu benennen? Welche Kraft steckt im Vergeben? Nach den Impulsreferaten können auch Sie im «Café Théo» ins Gespräch kommen.

Samstag, 27. Januar: Schuld und Vergebung – ein biblischer Blick, mit Pfr. Dr. Manuel Dubach
Samstag, 10. Februar: Kleine Psychologie des Vergebens, mit Prof. Dr. Mathias Allemand
Samstag, 24. Februar: Von der Schuld zur Entschuldigung, mit Dr. theol. h.c. Judith Wipfler

Jeweils von 10.00 bis 11.45 im Hotel Sonne, Zürichstrasse 2, Herzogenbuchsee
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