«Vielfältig vorgelebtes Menschsein ist nötig»

31.08.2021

Kritische Fragen zum Begriff «Kindeswohl»

Das Kindeswohl ist zum zentralen Schauplatz in der Auseinandersetzung um Eheöffnung geworden, auch wenn Ehe und Kinder nicht zwingend zusammengehören. Ein persönlicher Kommentar.

Von Susanne A. Birke*

Ehe und Kinder gehören nicht zwingend zusammen, heute nicht und früher nicht. So wie Erziehung einerseits und Zeugung und Geburt andererseits nicht zwangsläufig Aufgaben derselben zwei Personen waren und sind. Die hebräische Bibel kennt zum Beispiel die Pflicht des Mannes, Kinder für seinen Bruder zu zeugen, wenn dieser selbst keine bekommen kann. Einige der angeführten Argumente zur Abstimmungsvorlage «Ehe für alle» behindern das Kindeswohl für mich eher, als dass sie es stärken. Ich möchte darum einen persönlich geprägten Blick auf die Frage des Kindeswohls werfen.

Was braucht ein Kind?

Muss das Fehlen des biologischen Vaters oder der biologischen Mutter wirklich grundsätzlich ein Schicksal sein, welches das Leben eines Kindes beeinträchtigt? Ich wurde mit einer Mutter gross, die auf vielen Ebenen Gewalt ausübte, auch sexualisierte Übergriffe. Eine Scheidung der Eltern schien mir als Kind als wunderbare Utopie. Nur mit dem Vater aufzuwachsen, hätte mir viel erspart. Was ich als physisches, wenn auch nicht rollenkonformes Mädchen erlebte, wollte schon damals niemand wahrhaben.

Sexualisierte Übergriffe durch eine mit ihrem Mann lebende Ehe- und Hausfrau auf die eigene Tochter waren für mein Umfeld undenkbar. Geschehen sind sie trotzdem, um nicht zu sagen, gerade das machte es meiner Mutter leicht. Die gesellschaftlichen Bilder verunmöglichten es mir, Schutz und Unterstützung zu finden. Persönlich wäre ich lieber mit einem Männerpaar aufgewachsen, das mich fürsorglich und kindgerecht ins Leben begleitet hätte, als mit einer gewalttätigen Mutter und einem Vater, der Augen und Ohren gegenüber dem Tun seiner Frau verschloss.

Wer in Anspruch nimmt, für das Wohl der Kinder zu sein, darf sich nicht auf Merkmale wie das angeblich richtige Geschlecht und die scheinbar richtige Paarkombination berufen. Die simple Verknüpfung von Kindeswohl mit sichtbaren Persönlichkeitsmerkmalen der Eltern muss aufgelöst werden. Sie verhindert wahrzunehmen, was wirklich geschieht. Laut einer Studie von Kinderschutz Schweiz 2020 gaben 4,4 Prozent der Eltern an, regelmässig physische Gewalt anzuwenden.

Bezugspersonen sind wichtig

Wenn uns das Kindeswohl am Herzen liegt, sollten wir uns um solche Probleme kümmern, nicht um die Geschlechterkonstellation eines Ehepaares. Kinder brauchen konstante Bezugspersonen, die sich ihnen liebevoll und kindgerecht zuwenden. Das müssen nicht die Menschen sein, deren Gene das Kind trägt. Auch eine isolierte heterosexuelle Kleinfamilie mit Vater und Mutter wird dem Kindeswohl nicht dienlich sein. Es braucht mehrere Menschen, egal ob die Kinder nun allein, zu zweit oder von mehreren Personen wie in einer Patchwork-Familie oder mit mitbetreuenden Grosseltern ins Leben begleitet werden.

Geschlechtervielfalt im Umfeld

Es braucht Geschlechtervielfalt im Umfeld, egal ob die Eltern zwei Frauen, zwei Männer, zwei Menschen eines dritten Geschlechts sind oder verschiedenen Geschlechtern angehören. Es gibt schliesslich nicht die Frau, den Mann, die non-binäre Person. Vielfältig vorgelebtes Menschsein ist immer nötig. Die Vorlage zur «Ehe für alle» mit Zugang zum Adoptionsverfahren und zur Samenspende garantiert das Recht der Kinder auf ein Wissen über ihre Herkunft ab 18 Jahren. Sie schafft Sicherheit für Regenbogenfamilien, weil der Tod eines Elternteils nicht bedeuten muss, dass die Kinder beide verlieren, weil der zweite Elternteil nicht erziehungsberechtigt ist.

Was für das Kindeswohl innerhalb der Familie zählt, ist das Verhalten der Erziehungsberechtigten, nicht mehr und nicht weniger. Genauso wenig, wie Geschlecht und Zivilstand seelsorgerliche Kompetenzen sind, sind Geschlecht und Paarkonstellation erzieherische Kompetenzen. Für das Kindeswohl in der Familie zählt das Verhalten der Erziehungsberechtigten.

 

* Die Autor*in, 53, Theolog*in, Erwachsenenbildner*in, Atemtherapeut*in und Qigong-Lehrer*in, lebt in Bern und arbeitet im Aargau.