Streng schaut er, der Hl. Vinzenz, Berns Patron. Er befindet sich im Chorgewölbe des Berner Münsters. In den Händen hält er einen Palmwedel und das Evangelium. Der Protagonist unserer ersten Geschichte, Heinrich Wölflin (kleines Bild), hat an diesem Himmlischen Hof vermutlich mitgewirkt. Foto: Nick Brändli, Zürich
Vom Himmlischen Hof in Bern bis ins ferne Neapel
Ein Krimi aus dem Berner Münster
Die ungerade Lebensgeschichte des einstigen Chorherren und ersten Bruder-Klaus-Biografen Heinrich Wölflin.
Im Chor des Berner Münsters wurde im letzten November feierlich der Himmlische Hof – so nennt man die Darstellung des Paradieses mit den Heiligen im Chorgewölbe – nach der Restaurierung von der früheren Münsterpfarrerin Maja Zimmermann wieder seiner Bestimmung übergeben – genau 500 Jahre nach seiner Fertigstellung 1517.
Zu dieser Zeit war Heinrich Wölfin Chorherr am Berner Münsterstift St. Vinzenz. Wölflin hatte im gleichen Jahr, wohl nicht zufällig, sogar noch ein Vinzenzoffizium – der Hl. Vinzenz war der Patron des Münsters – verfasst, das in Basel im Druck herauskam. Es ist anzunehmen, dass Wölflin als besonderer Heiligenkenner wohl konzeptionell massgeblich am Himmlischen Hof beteiligt war, an dem auch Niklaus Manuel mitgearbeitet hat. Wer war Heinrich Wölflin, der sich nach damaliger Gelehrtensitte auch lateinisch Henricus Lupulus nannte?
Heinrich Wölflin (auch Wölfli geschrieben) stammte aus einer Burgerfamilie von Bern. Er wurde am 30. Juni 1470 geboren. Über seinen Studiengang wissen wir, dass er sich 1493 an der Universität Paris immatrikuliert hatte und nach einem Jahr den Titel eines Magister atrium (Meister der freien Künste) erhielt. An der gleichen Universität hat auch der jüngste Sohn von Bruder Klaus studiert und 1490 den Magistertitel erworben; Niklaus von Flüe wurde Pfarrer von Sachseln und empfahl der Obwaldner Regierung wohl Heinrich Wölflin als Biographen von Bruder Klaus.
Wölflin war wohl noch auf der Universität, als er vom Berner Rat am 9. April 1493 zum Schulmeister gewählt wurde, mit Amtsantritt auf Ostern nächsten Jahres. Die Schule erhielt durch ihn einen grossen Ruf und Zudrang von auswärts. Auch Ulrich Zwingli war sein Schüler.
Schon 1498 scheint aber Wölflin, der nach damaliger Gelehrensitte seinen Namen in Lupulus latinisierte, die Lehrtätigkeit aufgegeben zu haben. Am 9. November dieses Jahres sagten Schultheiss und Rat dem Magister Lienhard Mäder die Stelle auf den Zeitpunkt des «Abstands» des jetzigen Schulmeisters, Herrn Heinrich Wölflin, hin zu. Über Wölflins Aufenthalt zwischen 1498 und 1503 ist nichts bekannt. Vielleicht hat er ein Theologiestudium absolviert.
1503 wurde Wölflin, inzwischen Priester geworden, am 16. Juli aus sechs Kandidaten vom Rat zum Chorherrn am Vinzenzstift des Berner Münsters erkoren. Als Chorherr war Wölflin finanziell gut gestellt, und er verwendete seine Einkünfte für grosse Reisen und Pilgerfahrten zu den Gnadenorten Italiens und Südfrankreichs und schliesslich nach Jerusalem, sowie zu Vergabungen von Kirchenzierden an sein Stift.
Aus dem Jahre 1515 ist seine Stiftung der eindrücklichen Vinzenteppiche für den Münsterchor überliefert, die heute im Historischen Museum sind. Später aber hat er sich als einer der ersten der Reformationsbewegung seines Schülers Zwingli angeschlossen und schon 1523 geheiratet, weshalb er von der damals noch katholischen Berner Regierung der Chorherrenpfründe entsetzt wurde. Nachdem die Reformation in Bern offiziell eingeführt war, wurde er 1528 zum ersten Chorschreiber gewählt. 1530 setzte sich Heinrich Wölflin dafür ein, dass das wunderschöne vierbändige Antiphonarium Lausannense – aus dem er noch als Kantor gesungen hatte – nach Freiburg verkauft wurde; er wirkte dabei als Notar mit.
Diese Handschrift ist heute noch als Dokument der hochstehenden vorreformatorischen Musik am Berner Münster in der Collégiale Saint-Laurent in Estavayer-le-Lac zu sehen (vgl. pfarrblatt 4/2017). Heinrich Wölflin ist 1532 gestorben.
Entstehung der Vita des Niklaus von Flüe
Wölflin schrieb im Auftrag der Obwaldner Regierung eine Bruderklausen-Biografie, die nicht datiert ist; das Manuskript lag 1501 vor. Es war Bischof Matthäus Schiner gewidmet. Die Biografie ist heute noch die grundlegende Vita.
Wölflins Hoffnung einer Drucklegung des Werkleins ist, obwohl angekündigt, nicht in Erfüllung gegangen. Die Originalhandschrift des Unterwaldner Exemplars liegt einigen Abschriften zugrunde (Sebastian Rhaetus, Andreas Zbären) und ist die Grundlage der deutschen Lebensbeschreibungen von Hans Salat, Ulrich Witwyler, Renward Cysat , Johann Joachim Eichhorn und Petrus Hugo – und damit der ganzen älteren Bruder-Klausenliteratur geworden. Auch die erste reformierte Bruder-Klausen-Biografie von Gerhard Tersteegen von 1753 geht auf Wölflin zurück. Übrigens: Die noch in der neueren Literatur als verloren angegebene Originalhandschrift von Wölflin liegt in der Nationalbibliothek von Neapel.
Wölflin und Zwingli
Die Wölflinsche Bruder-Klausen-Vita war eine Brücke zu den Reformierten, die Bruder Klaus ebenso verehrten, aber eben anders als die Katholiken – wie kürzlich der Nidwaldner Theologe Fritz Gloor schrieb. Heinrich Wölflin, der frühere Berner Chorherr, war nicht nur der Lateinlehrer von Ulrich Zwingli (er schrieb 1531 als Freund auch das Epitaph auf Zwingli), er war wohl auch der Anreger für Zwinglis vier Schreiben über Bruder Klaus. Darin beruft sich Zwingli auf Bruder Klaus und warnt vor Eigennutz und des damit verbundenen Reisläufertums. Auch der Nachfolger Zwinglis, Heinrich Bullinger, schreibt am Anfang seiner Reformationschronik, wie der fromme Einsiedler Bruder Klaus «wider diese verderbung redt», nämlich gegen die ausländischen Bündnisse und Solddienste.
Angelo Garovi
Alles zu Heinrich Wölflin im Historischen Lexikon der Schweiz
Das Chorgewölbe des Berner Münsters, der Himmlische Hof mit allen Schlusssteinen und Heiligen, kann man interaktiv erkunden. Die einzelnen Figuren lassen sich anklicken und auch dreidimensional von allen Seiten bewundern. Mit vielen Zusatzinformationen: www.bernermuensterstiftung.ch (Rubriken «für Besucher*innen» und dann «Interaktives Chorgewölbe»)