Schützen statt ausbeuten. Mann bekämpft Waldbrand in Humaitá, Amazonas, Brasilien. Foto: Keystone, Fernando Bizerra

«Von Amazonien hängt die Zukunft der Menschheit ab»

01.10.2019

Amazonas-Synode. Eine Analyse von Andreas Hugentobler.

  • «Zum ersten Mal zeigt sich deutlich, wie Herausforderungen und Konflikte in einem bestimmten Gebiet ein dramatischer Ausdruck der aktuellen Lage sind, wo das Überleben des Planeten Erde und das Zusammenleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel stehen.» (Papst Franziskus, Laudato si)


Nach der Umweltenzyklika «Laudato Si» von Papst Franziskus folgt im Oktober der zweite grosse Eckstein seines Pontifikats: die Amazonas- Synode. Was als Thema einer Teilkirche erscheint, enthält in sich Methode und Inhalt einer Kirchenreform: Dezentralisierung, vom Einzelnen zum Allgemeinen denken, prophetisches Engagement.

Bei der bevorstehenden Synode geht es grundlegend um das Überleben der Menschheit auf dem Planeten Erde und um die Rolle, die darin der Kirche zukommt. Die Mischung aus Ökologie und Kirchenreform erscheint zudem für viele ungewohnt, für andere gar anstössig. Dementsprechend hat die Synode bereits im Vorfeld viele Erwartungen, aber auch Bedenken geweckt.

Erwartungen und Befürchtungen

Die grösste Angst des konservativen Lagers bezieht sich auf die befreiungstheologische Methode, welche statt wie üblich vom Dogma, nun von der aktuellen Realität ausgeht:

1. Sehen: «Die Stimme Amazoniens».
2. Urteilen: «Der Schrei der Erde und der Armen».
3. Handeln: «Eine prophetische Kirche in Amazonien.»

Dieses Vorgehen führe gemäss Kardinal Ludwig Müller zu «Traditionsverlust», Öko-Spiritualität werde zu Religionsersatz, zudem bringe eine Kirche, die sich aus der Vielfalt der Amazonasvölker versteht, ihre Einheit in Gefahr. Die Ängste der Traditionalisten lassen uns wissen, worum es kirchenpolitisch bei der Synode geht: um Methode und Inhalt einer dezentralen, synodalen Kirche der Armen, die global denkt und lokal handelt.

Papst Franziskus fordert diesbezüglich eine dreifache Umkehr: eine pastorale, hin zu einer Kirche, die vom konkreten Alltag der Menschen heute ausgeht, eine ökologische Umkehr, die ernsthaft nach Auswegen eines tödlichen Wirtschaftssystems sucht, sowie eine synodale Umkehr, die gemeinsames Vorwärtsgehen und eine gesunde Debatte fordert.

Erwartungen aus amazonischer Perspektive an die Synode

  • «Ist es euch zu wenig, dass ihr auf der besten Weide weidet und euer übriges Weideland mit euren Füßen zertrampelt? Dass ihr das klare Wasser trinkt und den Rest des Wassers mit euren Füßen verschmutzt? Meine Schafe müssen abweiden, was eure Füße zertrampelt haben, und trinken, was eure Füße verschmutzt haben.» (Ez 34,18-19)


Der globale Rohstoffhunger des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist beinahe unersättlich und lässt Kriege führen für den Zugang zu Land, Wasser, für Bodenrechte. Wer sich dagegen wehrt, lebt gefährlich – in den letzten zehn Jahren wurden in Lateinamerika über 1179 Angriffe auf Umweltaktivist*innen verübt, über 50% davon aus ethnischen Minderheiten. An der Spitze der Statistik steht Brasilien, gefolgt von Kolumbien (vgl. www.amerika21.de). Vom ganzen Geschäft profitieren globale Eliten sowie kleine, superreiche nationale Oberschichten.

Die jüngsten massiven Waldrodungen und die systematische Ausbeutung von Natur und Bevölkerung zeigen, was im Amazonas derzeit vorgeht: ein Krieg um Bodenschätze. Wie üblich bei Kriegen, sind Kollateralschäden hinzunehmen – wie etwa die Zerstörung von ganzen Dorfgemeinschaften, Lebensgrundlagen und Ökosystemen. Weil beim Krieg um den Amazonas jedoch die Zukunft der ganzen Erde auf dem Spiel steht und dies alle etwas angeht, tut die Kirche gut daran, dies bei der Synode in radikaler Form aufs Tapet zu bringen.

Radikal heisst: Ursachen benennen, Neoliberalismus und Korruption anklagen, neue Wege aufzeigen. So ruft das Synode-Arbeitspapier zu einer «prophetischen Kirche» auf. Will heissen: nicht länger mit Umweltverbrechern in den Dialog über das Klima treten. Dialog hört dort auf, wo Machtinteressen gewaltsam durchgesetzt werden. Und mit Kriegsverbrechern wird schliesslich auch nicht verhandelt! Der Amazonas brennt, blutet und schreit nach einem Systemwechsel, einem gemeinsamen Schützen und Sorgen, statt egoistischem Ausbeuten und Zerstören.

Eine ganzheitliche Ökologie

Ein Blick auf die Artenvielfalt und das Zusammenspiel der Lebenszyklen Amazoniens gibt Ansätze nach dem wohin einer neuen Weltordnung, die Leben schützt und entstehen lässt:

• Bei der Synode geht es nicht um «Umweltökologie », sondern um ein grundlegend neues Verhältnis der Menschheit zur Erde: die Integration aller möglichen Lebensbereiche zu einem ökologischen Gleichgewicht.
• Von der Biodiversität und den Lebenszyklen Amazoniens lernen heisst demzufolge, dass sich Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Natur, Moral, Wissenschaft und eben auch die Kirche der ökologischen Herausforderung eines Überlebens-in-Gemeinschaft stellen müssen. Tun sie es nicht, ist es bald zu spät.
• Dieses radikale Umdenken wird möglich, in dem Mass, wie wir uns als Teil und nicht länger als Herren des grossen «Organismus Erde» verstehen (Boff). Von den Völkern Amazoniens lernen heisst: aus der Beziehung zu allen Geschöpfen leben. Keine unserer Handlungen ist jemals rein individuell begrenzt, immer sind sie bedingt durch andere(s) und wirken sich auf andere(s) aus.
• Das Amazonien-Paradigma verlangt nach einer Spiritualität der globalen Solidarität. Dies zeigt den universalen Anspruch der Synode: Das Überleben der Menschheit auf dem Planeten Erde hängt von ihrer Fähigkeit ab, sich aus der Beziehung zu allen Geschöpfen neu zu verstehen.

Mission als Dienst am Leben in Amazonien

Wie kann sich Kirche, ausgehend vom Paradigma der Biodiversität, selber neu verstehen? – So verschieden die Völker Amazoniens sind, so unterschiedlich sind auch ihre Erwartungen an die Synode. Viele leben in Distanz oder totaler Ablehnung zur katholischen Kirche aufgrund vergangener Gräueltaten. Andere anerkennen sie als Partnerin im Kampf für ihre Rechte und jene der Mutter Erde, weitere verlangen nach respektvollem, ökumenischem Dialog. Und dann gibt es jene, die aktuell zur katholischen Kirche gehören. Unter ihnen kann eine authentische Amazonaskirche aufblühen, sofern Reformen angegangen werden.

Evangelisierung: Die Kirche versteht sich neu als ein Akteur unter vielen innerhalb der gottgewollten Vielfalt Amazoniens. Als solche ist sie bereit, ihren Auftrag als Hüterin des «gemeinsamen Hauses» wahrzunehmen. Wenn sich indigene Völker in der katholischen Kirche heimisch fühlen, dann nicht augrund erfolgreicher Missionsstrategien, sondern als Folge einer tätigen Nächstenliebe im Dienst am Leben im Amazonas.
Eucharistie: Wenn die Eucharistie zentraler Glaubensakt ist, dann hat eine kirchliche Gemeinschaft ein Recht, dass ihr Bischof alles Mögliche unternimmt, den Zugang zur Eucharistie amazonischer Prägung zu gewährleisten. Dies ist für die grosse Mehrheit der Amazonas-Völker jedoch bestenfalls einmal im Jahr der Fall. Wer soll deshalb der Eucharistie vorstehen? – Ein eingeflogener Priester, der häufig weder Sprache noch Kultur versteht oder ein anerkanntes, lokales Gemeindemitglied? Und wer garantiert, dass die Eucharistie nicht nur Ritus, sondern auch prophetisches Handeln zur Rettung des «gemeinsamen Hauses» ist? – Eine Mehrheit der Amazonas-Bischöfe Brasiliens spricht sich in diesem Zusammenhang klar für die Priesterweihe von «viri probati» («bewährten» Männern) aus. Ob sie den Mut haben, dies auch für Frauen auszuweiten? – Zu Begrüssen wäre dies, denn schliesslich sind auch in Amazonien eine Mehrheit der Gemeindeleitenden Frauen.

Impulse für die Kirche Schweiz

Die Amazonas-Synode sucht primär nach Handlungsansätzen einer Ortskirche, der aufgrund des Amazonas-Krieges sowie des kirchenpolitischen Reformstaus eine universelle Bedeutung zukommt. Welche Impulse kann die Kirche Schweiz von der Amazonas-Synode erhalten?

Global denken – lokal handeln:
Als ersten wichtigen Impuls stellt die Synode den kirchenpolitischen Zentralismus infrage und ermöglicht dezentrale Lösungen für konkrete Probleme. Das Zweite Vatikanum schaffte wohl ein inhaltliches «aggiornamento», eine Annäherung an die Freuden und Leiden der Menschen von heute – doch blieb bislang ein strukturelles «aggiornamento» der Kirche selbst aus: Strukturreformen von der Basis und den Teilkirchen her wurden bislang systematisch ausgebremst. Die Kirche ist weiterhin zentralistisch gesteuert unter dem Motto «dasselbe Recht für alle».

Diesbezüglich schafft die Amazonas-Synode eine historische Gelegenheit einer Lokalkirche, die bereit ist, sich aufgrund aktueller Probleme und Herausforderungen neu zu strukturieren. Die Amazonas-Synode wird diesbezüglich ein Auftakt sein; der synodale Weg Deutschlands der nächste Schritt und Prüfstein einer dezentralen Kirchenreform. Massgebende Themen dabei: Zölibat, Sexualmoral, Frauenweihe, Macht- und Sexualmissbrauch. Keine dogmatischen Regelungen über den Glaubenssinn hinweg: Die Amazonas-Synode fragt nach dem aktuellen Glaubenssinn («Sensus fidei»), um konkrete Reformen anzustossen und als Volk Gottes das Evangelium glaubwürdig zu leben.

Dem widersprechen jedoch gewisse Dogmatiker, die unter Berufung auf eine «ius divinae» (unveränderbares, «göttliches» Recht) weitergehende Reformen im Voraus bereits verwarfen. Die in dieser Sache vorgebrachten Argumente gegen die Frauenpriesterweihe («Jesus hatte ja nur Männer als Jünger»), für den Pflichtzölibat («Jesus war auch nicht verheiratet») erscheinen in den Ohren von Zeitgenoss*innen ebenso jenseitig, wie der jüngst gegen die indigene Theologie und Öko-Spiritualität vorgebrachte Einwand («Jesus war schliesslich auch keine Pflanze»).

«Pflästerlipolitik» beenden, Ursachen anerkennen:
Nicht nur Amazonien, auch Schweizer Pfarreien kennen etwa Probleme im Zusammenhang mit dem Einfliegen von (Missions-)Priestern zur Aufrechterhaltung des Kirchenrechts. Häufig werden auf diese Weise unter Lösung eines Problems, zehn neue geschaffen. Besonders schmerzhaft ist dies dort, wo auf diese Weise der Wunsch lokaler Pfarreigemeinschaften nach guten, fähigen Seelsorgenden übergangen wird. Dies führt zu Demotivation, Distanzierung, manchmal sogar Austritt. Von Amazonien lernen kann hier konkret heissen: Lokale Pfarreigemeinschaften in ihrer Einzigartigkeit anerkennen und den Mut aufbringen, die heissen Eisen (Ursachen) anzugehen und strukturelle Veränderungen voranzutreiben.

Bio-divers denken und leben:
Jede kirchenpolitische Reform ist jedoch nicht Zweck an sich, sondern steht im Dienst am Weltauftrag. Anerkennen, dass der Rohstoffkrieg unseres Wirtschaftssystems unseren Planeten längst aus dem Gleichgewicht gebracht hat, ist Grundlage, um die Menschheit in ein neues Verhältnis zu allen Geschöpfen zu bringen und neue Lebensformen zu schaffen. Von Amazonien lernen, heisst: unseren Weltauftrag erkennen, Gesellschaft und Kirche sein in Antwort (nicht nur abstrakt auf die «Sorgen und Nöte der Menschen von heute»), sondern nun radikal: auf den «Schrei der Erde und der Armen». Die Kirche tut gut daran, ernsthaft interne Reformen anzugehen, um glaubwürdig unser «gemeinsames Haus» zu schützen. Es geht dabei um die Würde und die Zukunft der Menschheit auf unserem Planeten.

Andreas Hugentobler-Alvarez, Theologe, El Salvador

  • «Ihr habt Gott, wir haben Omama. Sie hat alles Lebende, so auch uns Yanomamis geschaffen. Sie lässt alles zu, was geschieht. Wir stehen in ständigem Austausch mit ihr.» (Miguel Xapuri Lanomami, Katechet des Zanomami-Volkes)


 

 

Andreas Hugentobler-Alvarez befindet sich im Personaleinsatz mit «Fidei Donum» in El Salvador und koordiniert die Basisgemeinden im Departement La Libertad in den Bereichen Bildung und Jugend. Einsatz-Blog: www.ecosdelpulgarcito.wordpress.com