Von Babel nach Jerusalem
Uns Menschen gemeinsam ist, dass wir in vielen Sprachen schweigen können. Aber auch die, welche viele Sprachen beherrschen, reden häufig aneinander vorbei. Wie es dazu kommt, zeigt uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel (Genesis, Kapitel 11). Der Anfang klingt durchaus verheissungsvoll: «Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte.» Irgendwann aber entschliessen sie sich, eine Stadt und einen Turm zu bauen, dessen Spitze bis zum Himmel reichen soll; sie wollen sich «einen Namen machen».
Ein derart gigantisches Projekt erfordert eine bis ins Detail koordinierte Zusammenarbeit. Je mehr der Turm wächst, desto unübersichtlicher wird das Ganze. Es steigen die Ambitionen und damit die Kosten. Plötzlich geht es weniger um das Projekt als vielmehr um Eigeninteressen. Zwist und Meinungsverschiedenheiten nehmen überhand. Wohl missfällt Gott die Überheblichkeit der Menschen. Aber um ihre Sprache zu verwirren, braucht er wirklich nicht eigens zu intervenieren (wie der Bibeltext insinuiert). Das erledigt sich doch ganz von selbst, weil alle nur noch die eigenen Vorteile im Auge haben. Die Folgen dieser Sprachverwirrung dauern bis heute an, wenn immer Menschen es an Einsicht fehlen lassen und an Solidarität. Dass es auch anders geht, zeigt die Schilderung der Pfingstereignisse zu Jerusalem (vgl. Apostelgeschichte, Kapitel 2). Da verkünden die vom Geist erfüllten Galiläer «die Grosstaten Gottes». Und alle hören sie in ihrer Muttersprache reden!
Das sollen wir glauben? Warum denn nicht? In Babel führen unterschiedliche Vorstellungen und Interessen zur Sprachverwirrung. In Jerusalem hingegen ist es der Gottesgeist, der sich durch den Mund der Apostel allen verständlich macht, wobei der Inhalt ihrer ekstatischen Äusserungen auffallend allgemein bleibt. Aber es gibt ja auch eine Art von Kommunikation, die wir auf Anhieb verstehen, selbst wenn uns die Sprache der anderen nicht geläufig ist – beispielsweise wenn ein Inder oder eine Eritreerin uns am Eingang zum Supermarkt den Vortritt lassen und uns dabei zulächeln. Da ereignet sich im Kleinen eben jenes Pfingstwunder, von dem der Verfasser der Apostelgeschichte berichtet.
Im Grunde stehen wir lebenslang vor der Wahl zwischen dem Turmbau und dem Pfingstwunder. Solange wir bloss übereinander und gegeneinander reden und dabei nur an uns denken, weilen wir in Babel. Wenn immer wir anderen gegenüber Wohlwollen bekunden, werden sie uns verstehen, auch wenn sie unsere Sprache nicht kennen. Zusammen sind wir dann auf dem Weg nach Jerusalem.
Josef Imbach Theologe, Seelsorger, Autor, Erwachsenenbildner und Dozent