Paul Celan. Foto: Wolfgang Oschatz / Suhrkamp Verlag
«Von deinem Gott war die Rede…»
Zum 100. Geburtstag/50. Todestag des Dichters Paul Celan
Eine denkwürdige Verabredung: In Zürich erwarten Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, der mit seiner Frau Gisèle und dem fünfjährigen Sohn Eric aus Paris angereist ist, einen Gast aus Stockholm: die Dichterin Nelly Sachs (1891–1970), die wenige Tage danach in Meersburg den Droste-Preis erhält und seit 1940 erstmals wieder deutschen Boden betreten wird.
von Beatrice Eichmann-Leutenegger
MeteoSchweiz meldet für diesen 25. Mai 1960 den «Aufbau einer Hochdruckbrücke über Skandinavien, allgemein trocken und sonnig». Am 26. Mai finden sich Paul Celan und Nelly Sachs für ein Gespräch zu zweit im Hotel Storchen gegenüber dem Grossmünster ein. Seit 1954 haben sie Briefe ausgetauscht – zwei Schicksalsverwandte, beide verfolgt aufgrund ihrer jüdischen Herkunft. «Sie sehen viel von jener geistigen Landschaft, die sich hinter allem Hiesigen verbirgt», schreibt Nelly Sachs in ihrem ersten Brief (10. Mai 1954) an den weitaus jüngeren Paul Celan, der ihr seinen Gedichtband «Mohn und Gedächtnis» (1952) gesandt hat. Nach ihrer ersten Begegnung in der Limmatstadt entsteht Paul Celans Gedicht:
Paul Celan, 1920 in Czernowitz geboren und vor fünfzig Jahren in Paris gestorben, gilt als einer der bedeutendsten Dichter deutscher Sprache im 20. Jahrhundert, auch als einer der schwierigsten. Die Literatur über ihn hat ein immenses Ausmass erreicht. Soeben ist eine opulente Bildbiographie von Bertrand Badiou erschienen, die dank neuer Quellen umfassend informiert. Doch Celan, der Mann mit dem sphinxischen Lächeln, dürfte weiterhin ein Rätsel bleiben. Auch das Zürcher Gedicht aus dem Band «Die Niemandsrose» (1963) ist nicht leicht zu erschliessen und dennoch fesselnd, da sich hier eine theologische Auseinandersetzung in lyrischer Form ereignet. Celan hat sich zu dieser Zeit dem Judentum wieder angenähert: Franz Kafka, Martin Buber, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem, Gustav Landauer, Walter Benjamin sind in seinen Buchbeständen präsent. Damit hat sich ein Raum eröffnet, der für ihn historische und kulturelle Kontinuität birgt.
So ist sein Gedicht ein mehrfach gebrochener Dialog mit den Juden aller Zeiten. Er verwendet Gegensätze, ein traditionelles Muster jüdischer Rhetorik, wenn er «vom Du und Aber-Du, von der Trübung durch Helles» spricht, von «deinem Gott», gegen den sich das lyrische Ich wendet, weil sich unterschiedliche Gottesvorstellungen zeigen. Diese enthalten einerseits ein «Zuviel», andererseits ein «Zuwenig». Aber auch wenn der Dichter sein Einverständnis mit dem Gottesbild der Gesprächspartnerin verweigert, so lässt er doch Hoffnung zu, zeigt Bereitschaft hinzuhören. Am Ende bekennt sich Nelly Sachs zur Unwissenheit, zur Docta ignorantia: «… wir/ wissen ja nicht,/ was/ gilt.»
Der Disput zwischen einem streitbaren Mann und einer versöhnlichen Frau hätte sonst eine schmerzhafte Differenz aufgerissen, angedeutet mit gestischen Signalen: «Dein Aug sah mir zu, sah hinweg …». Schon bei dieser ersten Begegnung zeichnet sich der Wechsel zwischen Nähe und Abstand, zwischen Innigkeit und Befremden ab. Die Beziehung wird später – wie so manche andere Celans – einer quälenden Spannung unterliegen. Denn Celans fundamentales Misstrauen, begründet im frühen Verlust der Eltern – beide Opfer der Shoa –, lässt ihn an allen Beziehungen zweifeln. Ein Selbstmordversuch, Attacken auf seine Gattin und mehrere Klinik-Einweisungen prägen die letzten Lebensjahre, bis er um den 20. April 1970 den Tod in der Seine sucht. Am 12. Mai findet die Bestattung statt. Ausgerechnet an diesem Tag stirbt Nelly Sachs in Stockholm. Es gilt ihr Wort: «In der unsichtbaren Heimat wohnen wir beide.»
Buchtipp
Bertrand Badiou: Paul Celan, eine Bildbiographie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020