Im Rahmen von «Voyage-Partage» an einer Schule in Nairobi: Renate Spörri. Foto: zVg

«Von den Taxifahrern erfahre ich sehr viel»

03.05.2023

Einjähriges Engagement in Afrika - Renate Spörri erzählt

Renate Spörri (65) aus Bern macht ein einjähriges Volontariat in Afrika. Seit Januar 2023 engagiert sich die ehemalige Berufsschullehrerin an einer Jesuitenschule in Kenia.

Interview: Anouk Hiedl

«pfarrblatt»: Warum machen Sie, frisch pensioniert, ein Volontariat in Kenia?

Renate Spörri: Ich habe schon zweimal in Afrika gearbeitet, vier Jahre in Simbabwe und drei Jahre in Tansania. Ich habe diese Aufenthalte als sehr bereichernd erlebt und wollte nach der Pensionierung freiwillig – nicht durch einen Vertrag gebunden und nicht gestresst wegen zu erreichender Ziele – noch einmal in Afrika arbeiten. «Voyage-Partage» hat mir ein Projekt in Nairobi vorgeschlagen. Da ich Ostafrika kenne, dachte ich, wird es einfacher, mich in Kenia als woanders einzuleben.

Was tun Sie vor Ort?

Ich unterrichte einzelne Lektionen, wenn eine Lehrperson krank ist, und helfe beim Korrigieren. Mit 35 bis 40 Schüler:innen pro Klasse gibt es sehr viel zu korrigieren. Nach vier Jahren Sekundarschule gibt es ein nationales Examen in allen Fächern. Je mehr Punkte man erreicht, desto mehr Auswahl hat man bei den Studienfächern. Unsere Schüler:innen aus dem nahegelegenen Slum «Kibera» haben meist keine Unterstützung von daheim, ja, nicht einmal einen Platz, um in Ruhe zu lernen. Deshalb sind ihre Resultate nicht sehr gut, und die meisten können nicht ihr Wunschfach studieren.

Gibt es Hilfe von Seiten der Schule?

Ja, sie unterstützt ihre «Graduates» nach dem Examen weiter. Alle machen ein sechsmonatiges Sozialpraktikum. Jeden Freitag tauschen sie sich über ihre Erfahrungen aus, und wir bekommen einen guten Einblick in ihre Gedanken. Diese Arbeit mit den «Graduates» finde ich sehr bereichernd.

Wie ist das Zusammenleben?

Ich habe viel Kontakt mit den Franziskanerinnen, bei denen ich wohne. Sie kommen aus Afrika und Asien, sind zwischen 25 und 55 Jahre alt und bilden sich hier weiter. Im Lehrerzimmer wird meist Suaheli gesprochen, da fühle ich mich manchmal etwas ausgeschlossen. Ganz viel erfahre ich von den Taxifahrern! Manche fahren ihr eigenes Auto, andere müssen dem Besitzer einen Teil ihrer Einnahmen abgeben. Letzthin erzählte mir einer, dass er hauptberuflich Bio-Bauer sei und vor allem Erdbeeren anbaue, die eine grosse Gewinnmarge haben. Erdbeeren seien sehr gefragt, weil die Leute vermehrt auf gesundes Essen achten.

Wie haben Sie sich auf Ihr Volontariat vorbereitet?

Nebst den Vorbereitungswochenenden von «Voyage-Partage» habe ich kenianische Zeitungen online gelesen und mit den Franziskanerinnen telefoniert. Die vorgängige Administration und Organisation in der Schweiz – E-Banking, Handynummer, Einwohnerkontrolle, Krankenkasse usw. – gab viel zu tun, das hatte ich unterschätzt.

Stimmt die Lebensrealität vor Ort mit Ihren Erwartungen überein?

Ja. Man kann alles bekommen, wenn man genug Geld hat. Doch bei den Franziskanerinnen gibt es keine Waschmaschine, man muss alles von Hand waschen. Eine Bettdecke oder Jeans zu waschen ist anstrengend, diese Realität hatte ich vergessen.

Wann stossen Sie an Ihre Grenzen?

Wenn die Lehrerschaft Schüler:innen schlägt, obwohl es eine christlich geprägte Schule ist, gibt mir das zu denken. Letzthin hiess es in den News, dass ein Schüler einer anderen Schule nach 22 Schlägen von zwei Lehrern starb. Da verzweifelte ich einen Moment lang an der Grausamkeit der Menschen. Kürzlich hat mir ein Taxifahrer erzählt, dass ein Polizist ihn verhaften wollte, weil er an einem verbotenen Ort einen Fahrgast aussteigen liess. Als ihm der Taxifahrer 500 Shilling (ca. 3.50 Franken) gab, war die Sache geregelt. Kurz vor der letzten Präsidentenwahl wurden auf Druck hoher Politiker 15 Billionen Shilling (ca. 110 Mio. Franken) ohne die gesetzlich vorgeschriebene Bewilligung des Parlaments an die damals regierende Partei überwiesen. Das Problem wird wenigstens im Fernsehen diskutiert, aber niemand wird belangt. Kenia hat so viel Potenzial, kann dieses aber immer noch zu wenig nutzen. Das zu sehen und nicht ändern zu können, tut weh.

Was hat Sie geprägt?

Vor Ort in eine andere Lebensart einzutauchen ist ein unvergleichliches Erlebnis und wie ein Puzzle. Auch wenn es nicht fertig wird, die vielen Teile machen das Bild klarer.
 

«Voyage-Partage»
Im Volontariatsprogramm «Voyage-Partage» engagieren sich Menschen während vier bis zwölf Monaten in einem kirchlichen Projekt in Osteuropa, Asien, Afrika oder Südamerika. Dabei erhalten sie Einblick in das einfache Leben der Bevölkerung und in die Arbeit der lokalen Ordensgemeinschaft. So werden Leben und Glauben miteinander geteilt, im Sinne von Solidarität, Begegnung und gegenseitigem Lernen. «Voyage-Partage» legt grossen Wert auf eine gute Vorbereitung der Volontär:innen und vermittelt individuell abgestimmte Projekte. Weitere Infos: www.voyage-partage.ch

Renate Spörri arbeitet ein Jahr lang freiwillig an der St. Aloysius Gonzaga Secondary School in Langata, Nairobi.