Wer einen Wald in seiner Nähe weiss, kann flugs der Sommerhitze entfliehen. Foto: Pia Neuenschwander
«Waldeinsamkeit! Du grünes Revier …»
Im zweiten Teil der Serie zur Sommerzeit gehts in den Wald
Beatrice Eichmann-Leutenegger begleitet uns mit Eindrücken, Beobachtungen und Gedanken zu sommerfrischen Orten. Lassen Sie sich von diesen Erzählungen und Augenblicken durch die Saison tragen – diesmal durch den Wald.
von Beatrice Eichmann-Leutenegger
Fotos: Pia Neuenschwander
Aus Japan stammt der Trend zu einer kostengünstigen Wellness-Disziplin: das «Waldbaden». Gemeint sind Spaziergänge – nicht Märsche! – unter dem kühlenden Blätterdach. Die Lungen füllen sich mit Sauerstoff, der Boden schmeichelt den Füssen, wenn sich nicht gerade ein Wurzelstrunk querlegt, der Herzschlag beruhigt sich. Wer einen Wald in seiner Nähe weiss, kann flugs der Sommerhitze entfliehen.
Dass man heute ein «Waldbad» geniessen kann, sagt einiges aus über Bewusstseinsveränderungen im Laufe der Zeit. Denn in früheren Jahrhunderten steckte der Wald voller Schrecken. Wilde Tiere hausten darin, das Dickicht war undurchdringlich, und die Wege führten nur zu oft in die Irre.
«Mittwegs auf unsres Lebens Reise fand
In finstren Waldes Nacht ich mich verschlagen,
Weil mir die Spur vom graden Wege schwand …»
Mit diesem Bild setzt Dantes «Göttliche Komödie» ein. Erst die deutsche Romantik entwickelte ein positives Verständnis und beflügelte ihre Dichter, die wie Eichendorff von der «Waldeinsamkeit» träumen. Nun wird der Wald lichter und lieblicher, ein idealer Ort.
Doch in der Märchenliteratur blieb der Wald weiterhin ein Un-Ort. Die Gebrüder Grimm sparten nicht mit Schreckensszenarien.
Hänsel und Gretel wurden von ihren Eltern, die sie loswerden wollten, mit einem Notproviant in den Wald geschickt. Jorinde und Joringel durften sich im Wald nicht zu nahe ans Schloss der Hexe wagen, denn sie verwandelte Menschen in Vögel. Brüderchen und Schwesterchen betraten einen Wald, in dem ebenfalls eine Hexe alle Quellen verwünscht hatte. Erst widerstand das durstige Brüderchen, aber beim dritten Brünnlein trank es und lag darauf als Reh da.
Doch in der Märchenliteratur blieb der Wald weiterhin ein Un-Ort.
Generationen von Kindern hörten und lasen diese Geschichten, und ich jedenfalls fürchtete mich vor Wäldern, weil keine Gewissheit bestand, dass nicht auch im Innerschweizer Forst eine Hexe ihr Unwesen trieb.
Die heutigen Kinderbücher dagegen – weit entfernt von jeder «Schwarzen Pädagogik» – wandeln den Wald in ein behagliches Refugium für Tiere, und wenn ein Ungeheuer wie Grüffelo auftaucht, trotzt ihm eine kecke kleine Maus. «Nicht wahr, den Grüffelo gibt es nicht wirklich?», fragt Enkelin Franca. Aber ihr kleiner Bruder Mathis will zur Sicherheit schnell die brisante Seite überschlagen, um dem Bösewicht nicht in die Augen blicken zu müssen.
Manche Wälder wirken heute wie in den Kinderbüchern harmlos, auch wenn vielerorts in der Forstwirtschaft ein Umdenken eingesetzt hat und eine neue Wildnis gefördert wird. Da denkt man wehmütig an den krausen Böhmerwald, dessen tschechische Bezeichnung «Šumava» lautmalerisch den Wind in den Kronen nachempfinden lässt.
Auch der Bödmerenwald zuhinterst im Muotatal SZ verspricht Ursprünglichkeit. Die Wege darf man keinesfalls verlassen, weil man sonst in einem Loch des Karst-Untergrundes verschwinden könnte. Er und der Risoud-Wald VD gehören zu den urtümlichen Wäldern der Alpen.
Der Risoud spielte zudem im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle: Die Passeurs und Passeuses, die das riesige Waldgebiet kannten, retteten jüdische Verfolgte aus Vichy-Frankreich über die grüne Grenze ins Vallée de Joux. In Le Pont erinnert beim Bahnhof ein Denkmal an die mutigen Aktionen, etwa jenen von Anne-Marie Im Hof-Piguet, die 2010 in Bern verstorben ist.
Es scheint fast, als ob man während der Corona-Zeit mehr als sonst die beruhigende Wirkung des Waldes geschätzt hätte. Rings um Bern liegen diese grünen Inseln verstreut. So traf man Bekannte, ohne sich mit ihnen verabredet zu haben. Oder man setzte sich auf einen Baumstrunk, blickte hinauf in die Baumkronen oder senkte den Blick auf die Moospolster und verfolgte die Käferexpeditionen.
Es scheint fast, als ob man während der Corona-Zeit mehr als sonst die beruhigende Wirkung des Waldes geschätzt hätte.
Bis vor Kurzem bescherte die Gunst der Stunde bisweilen eine Begegnung, die nach einem eigenen Ritual ablief. In der Ferne tauchte ein Mann auf, der die sitzende Frau auf dem Baumstrunk sah und in gespieltem Entsetzen seine Augen mit den Händen bedeckte. «Nein, nicht schon wieder!», rief er. Die Frau konterte: «Muss das wirklich sein, lässt sich dieses Treffen denn nicht verhindern?»
Es war Michael Schacht, der den raubeinigen Privatdetektiv Philip Maloney jahrelang auf SRF 3 und auf den Bühnen unübertrefflich verkörperte. Nach dem Eingangszeremoniell wurde das Gespräch ernsthafter, drehte sich um die Anstrengungen der Auftritte und all die Reisen bis ins hinterste Dorf der Schweiz.
Doch Maloney wird nie mehr im Elfenau-Wald mit rauchiger Stimme sein «Nicht schon wieder!» brummen. Sein Darsteller Michael Schacht starb am 20. August 2022.