Liebe verlangt Geduld. Rafik Schami. Foto: Wolf Südbeck-Baur
Was die Liebe kostet
Einer der berühmtesten syrischen Autoren: Rafik Schami ist Naturwissenschaftler, Schriftsteller, Philosoph... und Christ.
Als Naturwissenschaftler erforschte Rafik Schami den Aufbau der Materie. Er fragte sich, welche Kraft das Universum ordnet – und nannte sie Gott. Der Exilautor aus Damaskus zählt heute zu den bekanntesten Schriftstellern und schreibt die Geschichten seines Volkes vom Leben ab.
«pfarrblatt»: Rafik Schami, in Ihrem neuen Roman »Sophia oder der Anfang aller Geschichten« erzählen Sie die Geschichte des Syrers Salman, der genau wie Sie selbst 1971 nach Heidelberg geflohen ist. Ist diese Parallele Zufall?
Rafik Schami: Zufall sicher nicht. Aber ich mache seit Jahrzehnten die Erfahrung, dass sich ein Autor in ein Puzzlebild verwandelt. Sobald er mit dem Schreiben beginnt, erhebt sich sein Bild in die Luft, zerfällt in tausend kleine Teile und rieselt schliesslich runter in die Seele seiner Figuren. Der eine Protagonist empfängt nur zehn, eine andere vielleicht zweihundert Teile. So bin ich mit meiner Hauptfigur Salman biografisch zwar sehr in Berührung, aber nicht identisch. Auch Salmans Tante Amalia hat Teile von mir abbekommen, vor allem die unversöhnliche Haltung gegenüber der Sippe. Salman dagegen ist die Sippe egal.
Welche Parallelen gibt es noch?
Salman hat Chemie, Physik und Ethnologie studiert, er nimmt an Alphabetisierungskursen teil und gründet in Heidelberg einen Dritte-Welt-Laden. Das sind alles Dinge, die ich auch selbst erlebt habe. Und genau wie Salman habe ich Enttäuschungen bei Bewerbungen als Verlagslektor einstecken müssen. Aber anders als er habe ich keine Beziehungsprobleme. Obwohl Salman mit der klugen Römerin Stella, einer Pharmazie-Professorin, in einer festen Beziehung lebt und mit ihr einen Sohn hat, betrügt er sie. Da bin ich anders gestrickt.
Warum sind Sie in Syrien in den Untergrund gegangen?
Das habe ich auch in dem Roman umschrieben: Salman kommt in Syrien von einer Party und sieht auf dem Heimweg, wie jemand im Müll eines Abfallkübels wühlt. Er ist geschockt. In Syrien besitzen drei, vier Milliardäre fast alles. Auf der anderen Seite herrscht so ein Elend, dass man nicht anders kann, als entweder verrückt oder sozialistisch zu werden. Ich komme aus der aramäisch-christlichen Tradition, die Jesus immer mit seinem Eintreten für die Armen und Schwachen verbunden hat. Das hat mich sehr schnell in den Untergrund und in den Kampf gegen das syrische Regime geführt.
Jesus hatte sich aber dem gewaltlosen Kampf verschrieben ...
... natürlich, ich wollte auch keine Waffe tragen und keinen Militärdienst leisten. Militärdienst heisst bei uns in Syrien Krieg. Krieg gegen Israel, Krieg gegen die Nachbarländer und Krieg gegen das eigene Volk, jeden Tag, wie wir es heute erleben. Das war einer der Gründe, warum ich Syrien verlassen habe.
Sie sind in Damaskus in die Jesuitenschule gegangen. Was bedeutet Ihnen diese christliche Prägung?
Sie rüstet mich bis heute aus, um Minderheiten zu verteidigen. Ich selbst bin in zwei Minderheiten aufgewachsen: als Aramäer unter Arabern und als Christ unter Muslimen. Diese Erfahrung hat mich für die Lage bedrohter Minderheiten sensibilisiert, das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben.
Was ist für Sie die wichtigste Botschaft Jesu?
Den Satz »Liebt eure Feinde« hat niemand vor oder nach Jesus gesagt. Dieser Grenzen sprengende Satz begleitet mich schon immer.
Würden Sie sich als Christ bezeichnen?
Ich habe keine Probleme mit dem Glauben. Aber mit den Kirchen schon. Viel mehr möchte ich darüber aber nicht sagen. Nur ein Satz vielleicht: Die Kirchen verlängern den Weg zu Gott, statt ihn zu verkürzen!
In Ihrem Roman stellen Sie dem menschenunwürdigen Spitzelsystem eine Welt der Liebe entgegen. Ihre Hauptfiguren verhelfen Salman zur Flucht. Wenn sie erwischt würden, wären sie auf der Stelle tot.
Das ist leider keine Fiktion, sondern Realität in Syrien. Die Diktatur tötet die Solidarität, weil jede Solidarität das Leben kosten kann, sie sät Verdacht, sie sät Hass. Doch alle Diktaturen werden historisch bestraft. Hitler oder Stalin mögen für die Dauer eines Wimpernschlags der Geschichte idiotische Bewunderer gehabt haben, aber sie stürzten samt Lebenswerk elendiglich. Den heutigen Diktatoren wird es nicht anders ergehen.
Wie können die Diktatoren besiegt werden?
Als Mittel gegen die Zerstörung der zwischenmenschlichen Beziehungen durch diktatorische Regime wirkt nur die Liebe und der Mut zum Verzeihen. Nicht Philosophie, nicht Intellektualität. Zumindest nicht, wenn sie nur akademische Sprachakrobatik bleiben.
Warum nicht?
Weil das Intellektuelle und Rationale stets die Höhe des Einsatzes und die Gefahren misst, die sich aus diesem oder jenem Verhalten ergeben. Die Vernunft macht uns ängstlich, sie wägt ab, fragt nach den Vor- und Nachteilen. Aber Liebe fragt nicht, sondern sie stürmt! In meinem Roman hat Karim gerade sein spätes Glück, seine Liebe gefunden. Diese Liebe gibt ihm den Mut, alles aufs Spiel zu setzen, um einen Menschen zu retten. Das ist genau meine Kritik an manchen deutschen Intellektuellen, die nun populistisch kalt argumentieren und zu Theoretikern der AfD werden. Ihr ganzes Wissen hat nichts genützt, weil sie nicht lieben können.
Kennen Sie selbst eine solch bedingungslose Liebe?
Aus meiner Umgebung weiss ich, dass einige Familien manchmal Verfolgte versteckt haben. Wir wussten, es hätte schiefgehen können. Das sind Geschichten, die tatsächlich passiert sind, die ich in meinem Roman vom Leben abgeschrieben habe.
Hat Ihre Liebe zu den Menschen ihre Wurzeln im Christentum?
Nein. Ich glaube, dieser Samen, diese Haltung muss in uns im Innersten drinnen vorhanden sein. Diese Liebe habe ich vielleicht von meiner Mutter mitbekommen, die in ihrer Solidarität und Zuneigung ein Vorbild war. Wo keine fruchtbare Erde ist, wächst auch nichts. Es gibt Theologen, die kennen Jesus dreimal besser als meine Mutter. Trotzdem sind sie kalt wie sonst was.
Würden Sie sich dennoch als Christ bezeichnen? Ja, zweifellos. Mein Glaube verstärkt die Zuneigung zu den Menschen. Die katholische Kirche als Institution brauche ich aber nicht, auch nicht als Vermittler, um zum Schöpfer zu kommen. Ich habe meinen Weg zu Gott, der eher über die Wissenschaft führt.
Wie sieht der aus?
Als Forscher auf den Gebieten der Chemie und Physik habe ich in den 1970er und 80er Jahren erkannt, dass es eine unglaubliche Kraft geben muss, um all das, was das Universum ausmacht, zu bewältigen. Nennen wir diese Kraft Gott – ohne in den Kitsch des Rauschebarts zu verfallen. Wer weiss – vielleicht ist Gott eine Frau?
An welchem Punkt kamen Sie zu der Erkenntnis, dass es mehr als messbare Materie geben muss?
Das waren meine Studien zum besseren Verständnis des Atomaufbaus. Da habe ich mich intensiv mit Albert Einstein und Max Planck auseinandergesetzt. Je näher ich den Strukturen und Bauplänen der Materie auf die Schliche kam, desto mehr habe ich gestehen müssen, dass deren Baupläne nicht aus sich selbst heraus, nicht ohne ordnendes Prinzip entstanden sein können. Nur eine einzige Sekunde hätte genügt, um die Elektronen in den Atomkern fallen zu lassen – und alles wäre zerstört gewesen. Ich fragte mich: Wer hält das alles zusammen? Wie und warum funktioniert das Leben? Die Antworten der Biologie allein sind mir zu schwach.
Haben sich diese Erkenntnisse auch in Ihren literarischen Texten niedergeschlagen?
Damals schrieb ich ein kleines philosophisches Buch: «Wie sehe ich aus?, fragte Gott». Und es antworten seine Geschöpfe, ein Vogel, ein Schmetterling, eine Wolke, ein kleines Kind. Jeder beschreibt aus seiner Sicht, wieso er an Gott glaubt und wie er ihn sieht.
»Was die Liebe kostet«, heisst ein Kapitel in Ihrem neuen Roman. Was kostet die Liebe?
In freien Gesellschaften wie in Europa kostet Liebe nicht viel. Jeder kann tun und lassen, was er will. In den arabischen Ländern kann die Liebe das Leben kosten, wenn jemand die rote Linie übertritt, das Gesetz der Sippe, der Scharia, das Ehren-Gesetz. Denn diese Linien wurden gesetzt, damit die Herrschaft bestehen bleibt: Jeder bleibt in seiner Sippe, in seinen Grenzen, wie Schafe in einem Gatter. Diese Grenzen sollen verhindern, dass eine Solidarität entsteht, die die Diktatur ins Wanken bringt. Das ist das eine, was die Liebe kostet.
Und das andere?
Die Liebe verlangt die Fähigkeit, zu verzeihen und ein Auge zuzudrücken. Die Liebe verlangt Geduld – ohne Geduld ist sie keine Liebe, sondern eine Laune. Die Liebe verlangt, dass wir etwas von uns geben, ohne dass wir etwas erwarten. Sie wird uns später belohnen, aber wir dürfen nicht fragen, was wir als Gegenleistung kriegen. Die Liebe rechnet nicht. Diese Fähigkeiten sind uns nicht angeboren, sondern die müssen wir lernen: jemanden zwecklos und mit Hingabe zu lieben.
Was braucht es für ein friedliches Zusammenleben von Muslimen und Christen?
In Europa ist ein friedliches Miteinander verschiedener Religionen und Kulturen möglich, wenn wir eine klare Sprache sprechen. Wenn wir miteinander auch über unsere Unsicherheiten, über die Angst vor dem Fremden reden und dies nicht den Populisten überlassen. Unser Problem aber ist, dass wir uns vor einer direkten Sprache scheuen. Diese Unklarheiten und Unsicherheiten nutzen und missbrauchen die Populisten, sie zeigen mit dem Finger auf die Fremden als Sündenböcke für alle Wunden der Gesellschaft. Auch mit den Geflüchteten müssen wir eine klare Sprache sprechen, ohne Arroganz und ohne Romantisierung, um sie zu schützen.
Was sollten wir den Flüchtlingen sagen?
Zum Beispiel, dass sie zur Kenntnis nehmen, dass sie hier in einem christlichen Abendland sind. Dass sie sich von niemandem verleiten lassen dürfen, den Islam verbreiten zu wollen. Hier ist nicht der Ort dafür. Auch, dass hier ein Gesetz gilt, das bürgerliche Gesetz der Bundesrepublik Deutschland oder das Gesetz der Schweiz, je nachdem, wo sie leben. Hier gilt nicht das Gesetz der Scharia, nicht das Gesetz der Sippe und nicht das Gesetz der Ehre! Ich habe dazu zehn Ratschläge verfasst, sie wurden für die Geflüchteten in sechs Sprachen übersetzt. (Anmerkung der Redaktion: Die Ratschläge sind im Internet unter www.ksta.de/schamisratschlaege zu finden.)
Warum ist es so schwer, Frieden in Syrien zu schaffen?
Wenn der Westen wollte, könnte er innerhalb von 24 Stunden alle Hilfen für die Verbrecher der Nusra oder IS-Dschihadisten unterbinden. Die Scheichtümer und Saudi-Arabien können ohne den Westen nicht eine Woche lang funktionieren. Aber die westlichen Länder haben das bisher vermieden, weil sie angeblich Angst vor einem Öl-Embargo haben. Aber das ist ein geschmackloser Witz! Was sollen die Ölscheichs denn mit dem Erdöl machen? Es austrinken? Nein, wir müssen das syrische Volk gemeinsam retten und dafür sorgen, dass die Waffen schweigen. Und dann würden achtzig Prozent der syrischen Flüchtlinge in ihr Land zurückkehren, weil Leute ab vierzig Jahren in Europa wenig Chancen haben, einen Job zu finden.
Können Sie als Schriftsteller auch selbst etwas für Ihr Land tun?
Die wahren Verlierer eines jeden Krieges sind die Kinder und Jugendlichen. Deshalb habe ich mit Freundinnen und Freunden den Verein Schams gegründet. Er bemüht sich um die Förderung von syrischen Kindern und Jugendlichen in den Flüchtlingslagern in der Türkei, in Jordanien und im Libanon. Wir betreuen dort inzwischen über 1400 Kinder. Das ist ein Tropfen auf den heissen Stein. Aber auch ein Ozean besteht doch letztendlich aus vielen Tröpfchen.
Interview: Wolf Südbeck-Baur
Rafik Schami
ist 1946 in Damaskus unter dem Namen Suheil Fadel geboren und gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Sein Pseudonym »Rafik Schami« bedeutet »Der Freund aus Damaskus«. 1971 wanderte er legal nach Deutschland aus. 2012 gründete Rafik Schami zusammen mit dem Verleger Hans Schiler den Verein «Schams e.V.»(www.schams.org). Die Hilfsorganisation unterstützt Projekte im Libanon und der Türkei, um syrische Kinder und Jugendliche vor Hunger und Not zu schützen.
Buchhinweis: Rafik Schami, Sophia oder der Anfang aller Geschichten, 480 Seiten, Hanser-Verlag 2015