«Warteschlangen vor Migros, Post und Coop mit so viel Leerraum dazwischen, als trügen alle einen Zweimeterstab bei sich.» Foto: Pia Neuenschwander
Was ist das?
Schriftsteller Franz Hohler zur Coronakrise
Das hätte niemand von uns gedacht, als wir uns ein gutes neues Jahr wünschten, dass kaum einen Monat später der dritte Weltkrieg ausbricht. Und da sitzen wir, eingebunkert in unseren Häusern, und fragen uns, was das ist. Hat jemand den Zapfen aus dem alten Balken gerissen und Gotthelfs schwarze Spinne wieder herausgelassen? Rächt sich jetzt die Globalisierung, indem sie ein Virus auf die Seidenstrasse schickt? Ist das die Antwort der Natur auf die Klimaerwärmung? Oder soll so das Problem der Überalterung unserer Gesellschaft gelöst werden?
Von Franz Hohler, Schriftsteller, Kabarettist und Liedermacher
Nun dürfen wir also nicht mehr ins Kino oder ins Konzert gehen, und nicht einmal in die Kirche – dort könnten wir doch gemeinsam um Befreiung von dieser biblischen Plage beten. Partys und Karfreitagsprozessionen werden gleichermassen gestrichen. Und wurden bei uns je die Schulen geschlossen? Die Universitäten, Bibliotheken, Diskotheken, Kleintheater, Grosstheater?
Neue Bilder: Warteschlangen vor Migros, Post und Coop mit so viel Leerraum dazwischen, als trügen alle einen Zweimeterstab bei sich. Und drinnen leere Gestelle. Draussen Applaus von den Balkonen. Soeben war doch alles noch wie immer. Die letzte Einladung bei Freunden, der/die Gastgeber*in kochte für sechs Personen, war vor zehn Tagen, aber gefühlt war es letztes Jahr. Es ist, als seien wir in eine andere Zeitzone gerückt.
Und jedes Mal vor den Mittagsnachrichten die Ermahnungen des Bundesrats, wer krank oder über 65 sei, soll zu Hause bleiben. Als ob Altsein schon eine Krankheit sei. Dabei sind wir die fitteste Senior*innengeneration und sollen auf einmal vulnerabel sein, wie das neue Modewort heisst. Wahrscheinlich hat ein*e Dolmetscher*in grad kein deutsches Wort gefunden, als Bundesrat Berset «vulnérable» sagte, verletzlich, verwundbar, und hat es eins zu eins ins Deutsche gebracht, wo es sich seither breitmacht. Noch ein Modewort, «Vorerkrankung» geistert als neuer Angstmacher herum, es ist schlimmer als Erkrankung. Wie man sich wohl ein «Krisenfenster» vorstellen muss? Und was für ein schönes Wort wäre Corona, die Krone, wäre es nicht gegen uns, die Krone der Schöpfung, gerichtet.
Meinem jüngeren Mitbewohner eine Einkaufsliste mitzugeben, empfand ich schon fast als Demütigung. Auf Hilfe angewiesen zu sein, obwohl man sich gar nicht hilfsbedürftig fühlt. Man komme sich schon schuldig vor, wenn man 70 sei, klagte eine Freundin. Das Enkelkinderverbot trifft uns ins Herz. Wir sind zum Sonntagsskype übergegangen, und meiner Enkelin schicke ich jeden Tag per Post ein selbstgemachtes Kreuzworträtsel. Ob mein Vorrat an einfachen Wörtern für die nächsten Wochen oder Monate ausreicht?
Natürlich waschen wir, meine Frau und ich, uns ständig die Hände, und ich gehe jeden Morgen mit dem restlichen Ethanol als Seuchenpolizist durch unsere Wohnung und desinfiziere mit einem Lappen alle Klinken, Griffe und Schalter. Den Briefkasten, das Gartentor und die Haustür öffnen wir mit Handschuhen. Am Morgen schleichen wir uns um halb sieben aus dem Haus und machen einen kleinen Spaziergang zum Quartierwäldchen, wo wir nur ab und zu einer vermummten Speed-Walkerin ausweichen müssen. Wir winken uns verschwörerisch zu.
Ganz neu ist die Stimmung dennoch nicht: Erinnerungen an den Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 werden wach, als sich eine radioaktive Wolke unserem Land näherte und sich die Regierung in Schweigen hüllte. Man wollte keine Panik verbreiten, aber die Panik war schon da. Auch damals gab es Hamsterkäufe, und auch damals war es die Angst vor dem Unsichtbaren, die umging. Radioaktive Strahlung und Viren sieht man nicht, das macht sie unheimlich.
Die Klimaerwärmung spüren wir jeden Sommer hautnah, und jeden Winter ebenso, verschiedene Städte und Kantone haben deswegen schon einen Notstand ausgerufen, aber trotzdem konnten wir uns nicht zu Massnahmen aufraffen, die mit den jetzigen nur halbwegs zu vergleichen wären. Wir müssen es zugeben: Auf das, was jetzt passiert, waren wir nicht vorbereitet. Wir sind Pandemie-Lehrlinge. Hoffentlich lernen wir etwas.
Franz Hohler ist Schriftsteller, Kabarettist und Liedermacher. Foto: Ayse Yavas