Durch die Veröffentlichung der Missbrauchsstudie ist das Thema Nähe und Distanz ins Zentrum der Diskussion gerückt. Foto: Jacek Dylag, unsplash.com
Was ist meine Rolle?
Ein Gespräch mit Yvonne Kneubühler, Geschäftsführerin von Limita
Der Pastoralraum Region Bern hat in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Limita zur Prävention von sexueller Ausbeutung in den vergangenen zwei Jahren ein Präventions- und Interventionskonzept zum sexuellen und spirituellen Missbrauch erarbeitet und mit Hilfe von Schulungen bei den Mitarbeitenden des Pastoralraums implementiert. Yvonne Kneubühler, Geschäftsführerin von Limita, wirbt für ein institutionelles Vorgehen und eine Kultur des Dialogs über ein tabuisiertes Thema.
Interview: Christian Geltinger
Können Sie die Fachstelle Limita kurz beschreiben?
Yvonne Kneubühler: Die Fachstelle Limita ist vor rund 25 Jahren mit dem Schwerpunkt Prävention von sexueller Ausbeutung von Kindern, Jugendlichen und Menschen mit Beeinträchtigung gegründet worden. Mittlerweile beraten wir ganz unterschiedliche Institutionen in der gesamten Deutschschweiz, die in diesem Bereich tätig sind. Wir schulen Fachpersonen und begleiten Institutionen bei der Erarbeitung eines Schutzkonzepts.
Wie kam es zu der Ausrichtung auf Kinder, Jugendliche und Menschen mit Beeinträchtigung?
Die Fachstelle Limita ist aus der Frauenhaus-Bewegung in Zürich hervorgegangen. Man hat damals festgestellt, dass viele Frauen, die im Frauenhaus Unterstützung suchen, Kinder haben, die (ebenfalls) von sexueller Gewalt betroffen sind. Dabei entstanden die ersten Überlegungen, was es braucht, um sexuellen Missbrauch wirkungsvoll zu bekämpfen. Am Anfang dachte man, man könnte mit den Kindern gewisse Techniken entwickeln, hat dann aber sehr schnell gemerkt, dass Erwachsene für den Schutz von Kindern verantwortlich sind und dass man bei den Strukturen und Prozessen der Institutionen ansetzen muss.
Die Fachstelle Limita ist vor rund 25 Jahren gegründet worden. Heisst das, dass das Bewusstsein für sexuelle Ausbeutung von diesem Zeitpunkt aus stärker geworden ist?
Die meisten Fachstellen sind im deutschsprachigen Raum Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre entstanden. Das Bewusstsein ist in dieser Zeit sehr stark gewachsen. Natürlich hängt das auch mit dem Publikwerden von Missbrauchsfällen zusammen. Dabei hat man realisiert, dass es mehr braucht als punktuelle Kampagnen.
Was hat sich in den letzten 25 Jahren verändert? Gibt es weniger Fälle von sexueller Ausbeutung, weil eine stärkere Sensibilität vorherrscht, weil genauer hingeschaut wird, weil Menschen an Selbstbewusstsein gewonnen haben?
Ich wage da keine Prognose. Es gibt dazu keine verlässlichen Fallzahlen, da wir es in diesem Thema mit einer hohen Dunkelziffer zu tun haben. Man muss wissen, dass sexueller Missbrauch eine geplante Tat ist, also nicht spontan oder im Affekt passiert. Tatpersonen sind Meister:innen der Manipulation und gehen sehr strategisch vor. Eine erhöhte Sensibilität der Erwachsenen und ein gestärktes Selbstbewusstsein der Kinder sind wichtig, helfen aber nur begrenzt. Vielmehr braucht es wirkungsvolle Hürden in den Institutionen, um diese Täterinnen-Strategien zu unterlaufen und Missbrauch zu erschweren.
Für Limita ist der richtige Umgang mit Nähe und Distanz ein Kernelement der Prävention von sexueller Ausbeutung. Was macht ein richtiger Umgang mit Nähe und Distanz aus? Wo beginnt es problematisch zu werden?
Nähe zwischen Menschen komplett zu unterbinden, wäre der falsche Ansatz. Klarheit darüber, wie Nähe angemessen gestaltet werden kann, braucht es aber unbedingt. Das Ziel ist eine entwicklungsförderliche, gute Nähe, welche die physische und psychische Integrität respektiert und schützt. Um diesen ethischen Grundsatz im konkreten Arbeitsalltag zu leben, sollen Regeln und Standards definiert und in einem Verhaltenskodex festgehalten werden. Ein Verhaltenskodex beschreibt konkret, wie Risikosituationen – also Situationen, die Tatpersonen ausnutzen könnten – gestaltet werden.
Eine typische Risikosituation ist zum Beispiel eine Trostsituation: Ist es angemessen, ein trauriges Kind in den Arm zu nehmen? Hier verschafft ein Verhaltenskodex Klarheit. Er hält fest, welche Verhaltensweisen von Erwachsenen in welchen Situationen angemessen sind und welche nicht. Bei der Definition von Standards stehen immer die Bedürfnisse des Kindes im Zentrum und die Reaktion der Erwachsenen muss zu ihrer Berufsrolle passen. Eine Lagerleiterin ist keine Ersatzmutter – sie sollte also entsprechend trösten. Es geht also häufig auch darum, sich zu fragen, in welcher Rolle man gerade agiert.
Gehen die Institutionen es an?
Dort, wo Institutionen unter grossem öffentlichem Druck waren, hat sich viel zum Besseren entwickelt. Ein gutes Beispiel ist der gesamte Behindertenbereich. 2011 wurde der Fall eines Mannes öffentlich, der Schutzbefohlene mit Beeinträchtigungen systematisch missbraucht hat.
Das hat dazu geführt, dass man in diesem Bereich viel in die Erarbeitung und Umsetzung von Schutzkonzepten investiert hat. Leider sind die Institutionen, die ein funktionierendes Präventionskonzept implementiert haben, aber gesamtgesellschaftlich betrachtet nach wie vor in der Minderheit.
Sie beraten nicht nur Kirchen, sondern auch viele andere Institutionen. Lässt sich ein Unterschied beobachten in den Mechanismen von sexueller Ausbeutung?
Die Mechanismen sind sehr ähnlich. Sexueller Missbrauch geschieht immer im Kontext von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen auf und tritt insbesondere dort auf, wo Macht nicht begrenzt wird.
Besonders anfällig für sexuellen Missbrauch sind Institutionen, die entweder sehr hierarchisch strukturiert sind oder in denen ein kompletter Laissez-faire herrscht, weil dort wenig klare Regeln herrschen und niemand genau hinschaut. Tatpersonen gehen sehr strategisch vor. Sie manipulieren ihre Opfer und deren Umfeld. Sie bauen Nähe und Vertrauen auf. Sie vermischen ihre berufliche und ihre private Rolle.
Sie haben für die Katholische Kirche Region Bern, aber auch für andere Einrichtungen Präventionskonzepte entwickelt. Was sind die sensiblen Punkte bei der Einführung eines solchen Programms?
Wichtig ist, das Ganze als Prozess zu denken. Das Konzept muss in einer Institution entwickelt und behutsam implementiert werden. Ausserdem braucht es eine offene Gesprächs- und Kritikkultur auf allen Ebenen. Nur so ist es möglich, schwierige Situationen oder ein Fehlverhalten anzusprechen.
Die Entwicklung hin zu einer angstfreien Gesprächs- und Feedbackkultur bietet den besten Schutz für Schutzbedürftige vor sexuellem Missbrauch und gleichzeitig sind Mitarbeitende dadurch besser vor Falschanschuldigungen geschützt.