Jesus (Yvan Sagnet) mit Mikrofon. Foto: Fruitmarket/Langfilm/IIPM/Armin Smailovic
Was würde Jesus heute tun?
Interview mit Regisseur Milo Rau zu seinem Film «Das neue Evangelium»
Ein «neues Evangelium» wird in diesen Tagen präsentiert. So nämlich heisst der Film des Regisseurs Milo Rau. Er thematisiert das Leben Christi in der heutigen Gesellschaft: Unter welchen Umständen würde er heute leben? Was würde er predigen? Das sind Fragen, die im Zentrum des Films stehen. Grund genug, um mit Milo Rau ein Gespräch zu führen.
Interview: Luca Panarese, Insieme*
«Insieme»: In Ihrem Film ist Jesus ein afrikanischer Migrant, der nahe der süditalienischen Stadt Matera arbeitet und sich für die Rechte von Migrant:innen einsetzt. Das Phänomen der illegalen Anwerbung von Landarbeiter:innen wird im Film stark thematisiert. Worum geht es dabei?
Milo Rau: Es ist eine Tatsache, dass die grossen Lebensmittelkonzerne mit der Mafia zusammenarbeiten, indem sie insbesondere afrikanische Migrant:innen einsammeln und auf die Felder bringen. Diese sind von der kriminellen Organisation abhängig. Es sind Menschen ohne Verträge. Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, werden sie fallengelassen, ein Missbrauch der Arbeitskraft. Diese Menschen können sich nicht wehren, weil sie keine Rechte haben und von der Politik illegalisiert sind. Man rechnet mit einer halben Million Betroffenen in Süditalien: Migrant:innen, die in vielen Lagern um Matera herum leben, wo Tomaten, Orangen und Clementinen angepflanzt werden. Mit ihnen arbeiten wir im Film zusammen.
Warum haben Sie für Ihren Film dieses Thema gewählt?
Es war eine Verkettung von Dingen. Ich wurde von Matera angefragt, ob ich ein Projekt machen will, weil die Stadt 2019 «Kulturhauptstadt Europas» war. Ich habe sofort gesagt: Ja, einen Jesusfilm, weil ich Fan des Pasolini-Films bin und mit Maia Morgenstern zusammengearbeitet habe. Sie war die Maria im Film «Die Passion Christi» von Mel Gibson, der auch in Matera gedreht wurde. Dann habe ich diese Leute gefragt, ob sie mitspielen wollen, sie haben mir alle zugesagt. Und dann bin ich nach Matera gefahren.
Die Stadt dient übrigens weltweit als Kinokulisse, wenn man Szenen braucht wie in Jerusalem. Dann habe ich – fast eine Ironie der Geschichte – um dieses Jerusalem herum die Situation der modernen Sklaverei entdeckt. Da habe ich mir gesagt: Na gut, wenn Jesus jetzt tatsächlich nach Matera käme, dann würde er mit diesen Menschen zusammenarbeiten, mit den am wenigsten Priviligierten der Gesellschaft. Er würde nicht mit Schauspieler:innen, sondern mit besonders betroffenen Menschen vor Ort arbeiten.
Was würde Jesus heute in Matera tun? Ich bin überzeugt, er würde das tun, was unser Jesus-Darsteller Yvan Sagnet im Film macht: nämlich dafür sorgen, dass diese Menschen ihre Würde erhalten. Aus dem Matthäus-Evangelium ist für mich immer der Satz wichtig gewesen «Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz zu brechen, ich bin gekommen, um es zu erfüllen».
Die Gesetze, welche die Menschenwürde garantieren, existieren zwar in den Verfassungen, sie werden aber nicht angewendet. Der italienische Staat und auch die EU kümmern sich nicht um diese Menschen. Es ist meine Überzeugung, deshalb muss die Zivilgesellschaft, müssen wir Intellektuellen, wir Gläubigen, wir Künstler:innen, wir Bürger:innen – deshalb müssen wir alle uns darum kümmern, wir müssen das Gesetz erfüllen.
Milo Rau, 1977 in Bern geboren, Heimatstadt St. Gallen. Regisseur, Theaterautor und Essayist. Als Intendant leitet er das belgischeTheater Gent.
Foto: Keystone, Urs Flueeler
Solche Probleme gibt es auch in der Schweiz. Was würde Jesus hier predigen?
Die Idee zwischen den Menschen war ursprüglich ja nicht, dass wir möglichst viel Geld verdienen oder uns gegenseitig schlecht behandeln wollten. Wir wollten alle mit gleicher Würde ein besseres Leben haben. Und das betrifft den ganzen Planeten, nicht nur die Menschheit, sondern den ganzen Sinn des Lebens an sich. Das stellt das Ausbeutungssystem, in dem wir nun mal leben, immer wieder in Frage. Wir sind immer wieder aufgerufen, unsere Gesellschaft an der Botschaft der Bibel zu messen. Also der Botschaft Jesu, der sagt, wir sind hier, um miteinander zu leben und nicht, um irgendwelche Reichtümer zu häufen.
Da ist die Schweiz, sind wir Schweizer, nicht ganz unbeteiligt an dieser Ausbeutung. Wir haben hier Supermärkte, die diese Tomaten verkaufen. Die grössten Rohstoffkonzerne, die das kongolesische Volk ausbeuten, sind Schweizer Firmen. Das habe ich in einer anderen Dokumentation behandelt. Man muss es deutlich sagen, unser Reichtum basiert darauf, dass die Anderen arm sind, auf Ausbeutung. Und ich glaube, sich dessen bewusst zu werden, wäre eine Aufgabe Jesu. Wenn er herkäme, würde er sagen: «Ihr könnt nicht predigen, was ihr selbst nicht tut!»
Im Zuge der Konzernverantwortungsinitiative wurde die Forderung laut, die Kirchen sollen sich nicht zur Tagespolitik äussern. Wie sollte die Rolle der Religion, insbesondere der Kirche, bei solchen Problemen aussehen?
Ich glaube, es ist in jedem Fall einfach zu unterscheiden, wo das Wort Gottes liegt und was Menschlichkeit bzw. Unmenschlichkeit ausmacht. Und ich bin der Meinung: Die Kirche soll keine Politik, sie soll Humanität machen. Das ist das Problem: Viele Kirchenführer haben oft Politik gemacht, haben sich mit Politiker:innen zusammengeschlossen, haben gesagt: «Wir machen keine Politik.» In Wahrheit haben sie aber Politik gemacht.
In Süditalien bin ich auf eine Kirche gestossen, die sich für die Flüchtlingshilfe engagiert hat: Es ist in allererster Linie die katholische Kirche. Wir haben von Anfang an mit der Kirche zusammengearbeitet, ein Engagement im Sinne der Bibel, und ich glaube: Das ist die wahre Politik, die, die gemacht werden soll. Alles andere sind für mich Ausreden, ich kann es auch verstehen: Man hat Angst, man will sich nicht zwischen die Fronten stellen, aber es ist halt immer nötig! Im Krieg, bei Ausbeutung… Und die Kirche ist dann die einzige Organisation, die wirklich ein Manifest der Menschlichkeit in den Händen hält. So wie Jesus sagt: «Ihr werdet nicht an euren Worten gemessen, sondern an euren Taten.»
Mehrere Akteure dieses Films sind Muslime. Wie war es für sie, christliche Szenen zu spielen?
Sehr beeindruckt hat mich, was der Darsteller von Andreas gesagt hat: «Gerade, weil ich Muslim bin, mache ich hier mit.» Weil es nicht nur mit dem christlichen Glauben zu tun hat, sondern mit dem Glauben an sich, mit jeder Religion und mit Menschlichkeit. Und da sage ich: Das ist der Schritt, den ich hier machen will. Wir haben vielleicht ein neues Evangelium gemacht, das gar nicht mehr ausschliesslich christlich ist. Es ist ein menschliches Evangelium. Im Cast hatten wir Muslim:innen, Katholik:innen, Atheist:innen, Juden und Jüdinnen, wir hatten alles dabei. Und Jesus war bekannterweise auch Jude. Manchmal habe ich vergessen, dass die Bibel ein christliches Buch ist. Für mich ist die Botschaft allgemeingültig.
*Dieses Gespräch ist eine stark gekürzte Version des Interviews aus «Insieme», der Zeitschrift der Missione Cattolica di lingua Italiana di Berna. Die Mission versteht die sich als gläubige und christliche Gemeinschaft, auch wegen ihrer migrantischen Wurzeln, die sich mit den Themen des Films regelmässig auseinandersetzt.
«Das Neue Evangelium» sollte am Do, 1. April, in den Berner Kinos starten. Auf jeden Fall wird der Film online als «Kino on Demand» verfügbar sein.
Die Paulus-Akademie Zürich lädt (u. a.) in Zusammenarbeit mit der «Offenen Kirche Bern» zu einem Online-Gespräch mit Regisseur Milo Rau und Oliver Meiler, Italien-Korrespondent für den Tages-Anzeiger und die Süddeutsche Zeitung und Autor des Buches «Agromafia». Geleitet wird das Gespräch von Csongor Kozma, Direktor der Paulus Akademie, und Irene Neubauer, Projektleiterin «Offene Kirche Bern».
Vorvisionierung des Films: Sa, 27.3. bis Mo, 29.3.2021, bei Anmeldung bekommt man einen Link dafür zugeschickt. Kosten: Fr. 25.-
Anmeldung bis Mo, 22. März