Erosion in den Landeskirchen: Hohe Austrittszahlen und fehlende Taufen fordern die Kirchen heraus. Foto: Gregor Gander, aufsehen. ch
Wegen Missbrauchsstudie: Verdoppelung der Kirchenaustritte im Jahr 2023
Die Publikation der Missbrauchstudie im Herbst 2023 hat zu einer Verdoppelung der Austritte aus der römisch-katholischen Kirche geführt. In der evangelisch-reformierten Kirche sind die Austrittszahlen 2023 ein Drittel höher als im Vorjahr.
Sylvia Stam
Der Effekt ist offensichtlich: Nach der Publikation der Missbrauchsstudie in der katholischen Kirche im September 2023 kam es zu einer grossen Austrittswelle, erläutert Arnd Bünker, Leiter des Schweizer Pastoralsoziologischen Instituts (SPI), am 14. November gegenüber den Medien. Zu diesen hohen Zahlen kommt allerdings ein seit Jahren anhaltender Trend an Austritten aus den beiden grossen Landeskirchen, bedingt durch Säkularisierung und Individualisierung. Diese Entwicklung kann auch die Zuwanderung, von der die römisch-katholische Kirche bis 2014 profitierte, nicht aufhalten. Seit 2015 wird die Anzahl Katholik:innen in der Schweiz kleiner. Aktuell sind es noch 2'795'067 Mitglieder, 93'233 weniger als im Vorjahr.
Doch damit nicht genug: Für die sinkenden Mitgliederzahlen sind nicht nur Austritte verantwortlich, sondern auch die zunehmende Entfremdung von Menschen, die zwar formal noch Kirchenmitglieder sind, jedoch nicht am kirchlichen Leben teilhaben. «Sie geben die Zugehörigkeit zur Kirche in ihrer Familie immer weniger weiter», so Bünker.
Doppelt negativer Trend: Mehr Austritte und weniger Taufen
Dies wird sichtbar an der ebenfalls rückläufigen Anzahl kirchlicher Hochzeiten und Taufen (siehe Grafik 2). «Nicht getaufte Kinder sind ein vorweggenommener Kirchenaustritt», so Bünker. Damit ende eine jahrhundertelange familiäre Tradition der Weitergabe von Glaubenstradition und Kirchenzugehörigkeit.
Die beiden Vertreter der katholischen Kirche, der St. Galler Bischof Markus Büchel und RKZ-Generalsekretär Urs Brosi, halten beide in ihren Statements fest, dass die Aufklärungs- und Präventionsarbeit dennoch der richtige Weg sei. «Es gibt für uns kein Zurück», sagt Urs Brosi. «Prävention von Missbrauch, ein aufrichtiger Umgang mit Betroffenen sowie konsequentes Handeln gegenüber Tätern» müssten gemeinsam vorangebracht werden. «Wir haben die Warnung gehört und ernst genommen, die aus diesen Zahlen spricht.»
Ein Vergleich mit den reformierten Kirchen zeigt laut Brosi, dass die Austrittszahlen bei den Katholik:innen nicht direkt mit dem anhaltenden Reformstau zusammenhängt. Daher sei es wichtig, die Frage nach Reformen nicht im Blick auf die Austrittszahlen zu stellen, «sondern von unserem Verständnis von Kirche her.»
Brosi gewichtet die seit Jahren anhaltenden Austrittszahlen und die fehlenden Taufen jedoch mehr als die Austrittswelle nach der Missbrauchsstudie. «Wir sehen nicht, wer aus welchen Gründen seine Kinder nicht mehr taufen lässt».
Bescheidener werden
Markus Büchel gibt selbstkritisch zu, dass die Kirche ihre pastoralen Gewohnheiten zu lange fortgesetzt habe, «ohne uns ausreichend auf die Fragen der Menschen heute einzulassen So sind wir für viele Menschen irrelevant geworden. Jetzt müssen wir bescheidener werden.»
Rita Famos, Präsidentin der evangelischen Kirche Schweiz, muss zur Kenntnis nehmen, dass die Austritte aus ihrer Kirche unmittelbar nach Erscheinen der katholischen Missbrauchstudie zunahmen. Sie will den Fehler jedoch nicht nur bei der katholischen Kirche suchen. «Es ist uns in vielen Fällen nicht gelungen, glaubwürdig, relevant und nahe bei den Menschen zu sein».
Auf die Feststellung einer Journalistin, es entstehe der Eindruck, die Kirchen würden die steigenden Austrittszahlen einfach hinnehmen, entgegnet Brosi: «Ja, der Berg rollt und wir können ihn nicht stoppen.» Die Kirche könne sich aber fragen, wo sie näher bei dem sein könne, was Menschen von der Kirche erwarten. Rita Famos hält dem entgegen, dass die evangelische Kirche sich schon lange auf den Weg gemacht habe durch Strukturbereinigungen, individuellere Gottesdienstformate und Taufrituale, Kirche auf der Strasse etc. «Wir schauen nicht einfach zu.» Aber die Welle könne man tatsächlich nicht stoppen.
Engagement von Freiwilligen nur leicht rückläufig
In ihrer Präsentation dieser düsteren Resultate betonen die Kirchenvertreter das Engagement von Freiwilligen, welches durch die Missbrauchsstudie nicht sichtbar beeinträchtigt wurde. «Trotz der Schockwellen, welche die die Pilotstudie bei vielen Menschen ausgelöst hat», sei 2023 statistisch kein damit verbundener Rückgang der Zahl freiwillig Engagierter festzustellen, so Bünker. Er beruft sich dabei auf Erhebungen, die das Bistum St. Gallen zur Freiwilligenarbeit gemacht hat und bezeichnet diese als repräsentativ für die ganze Schweiz. Dem Entsetzen über die Missbrauchsfälle stünden bei den Freiwilligen positive Erfahrungen in der Kirche vor Ort gegenüber, welche offensichtlich stärker gewichtet wurden. Dies habe auch damit zu tun, dass die Mehrheit der Missbrauchsfälle Jahrzehnte vor dem eigenen freiwilligen Engagement stattgefunden habe. Dennoch ist auch bei den freiwillig engagierten der Trend rückläufig.