Boris, 42, lebt im Wald und auf der Strasse. Foto: Pia Neuenschwander
Weihnachten ohne Lametta
Was bedeutet Weihnachten für Leute, die kein Dach über dem Kopf haben oder von der Sozialhilfe leben? Das «pfarrblatt» hat Menschen aufgesucht, die in und um Bern am Existenzminimum leben.
Pia Neuenschwander
Boris
Für Boris ist Weihnachten ein Drama und ein Fest, das er als «künstliches Konstrukt ohne fundierten Hintergrund» betrachtet – eine Farce «Social Engineerings», wie er es ausdrückt. Für Boris bedeutet Weihnachten vor allem viel Stress, und er ist froh, wenn diese Zeit vorüber ist, selbst wenn er dann, am Strassenrand sitzend, mehr Geld verdient.
In seiner Kindheit war Weihnachten für Boris oft mit Streit, Hektik und Heuchelei verbunden. Es sei darum gegangen, das Image aufrechtzuerhalten und freundlich zu sein, weshalb stets das «ganze Programm» mit Weihnachtsbaum und Geschenken geboten wurde.
Heute erlebt Boris die Feiertage als sehr gehetzt. Heiligabend verbringt er jeweils im Wald oder in einer Notschlafstelle. Er wünscht sich, dass er «ohne grössere Schäden» durchkommt. Da die Schneemassen von November sein Lager im Wald zum Einsturz gebracht haben, muss er es wieder aufbauen.
Freude empfindet Boris in der Weihnachtszeit vor allem dann, wenn die Sonne scheint oder ihm ein Tier im Wald begegnet. 60 Prozent seiner Einkünfte verschenkt Boris wieder, ebenso seine Arbeitskraft oder sein offenes Ohr. Er träumt davon, auszuwandern «in Gefilde, wo die gesetzmässigen Gegebenheiten» ihm ein autarkes Leben ermöglichen.
Er ist der Meinung, dass es mehr niederschwellige Angebote wie das «Punkt 6» in Bern braucht und diese «365 Tage unabdingbar» geöffnet sein sollten, wie die Notschlafstelle «Sleeper» oder die Gassenküche
Sbiti
«pfarrblatt»: Was bedeutet Weihnachten für Dich?
Sbiti: St. Nikolaus. Und ich hoffe auf Frieden auf Erden. Für mich persönlich wünsche ich nichts.
Wie hast du Weihnachten als Kind erlebt?
Sbiti: Ich bekam oft Geschenke von katholischen Schwestern.
Was bereitet dir um Weihnachten Freude?
Sbiti: Mein Geburtstag am 24. November.
Was wünscht du dir in dieser Zeit am meisten?
Sbiti: Meine Kinder zu treffen.
Was würdest du schenken, wenn du könntest?
Sbiti: Ein Kunstwerk.
Was würdest du gerne tun, hattest bislang aber nicht die Möglichkeit dazu?
Sbiti: Ich habe immer gemacht, was ich wollte. Ich bin nicht fixiert auf etwas.
Wie verbringst du die Feiertage?
Sbiti: Ich bin allein zuhause.
Was ist dein Lieblingsgericht zu Weihnachten?
Sbiti: Pommes und Bratwurst (lacht).
Wie können die Feiertage für Menschen in schwierigen Situationen ein wenig heller werden?
Sbiti: Indem sie den Talmut, den Koran oder die Bibel lesen – das gibt Hoffnung.
André
Weihnachten habe er eigentlich noch gern, sagt André. Da habe er frei und finde Zeit, sich um das zu kümmern, was liegengeblieben sei.
Als Kind gab’s immer einen Tannenbaum. «Im Burgerwald haben wir jeweils zwei selber geschlagen, einen für die Grosseltern und einen für uns.» Manchmal mussten zusätzlich Äste an die Tannen angebracht werden, «die schönsten durften ja nicht gefällt werden», erzählt er schmunzelnd.
Heute hat André in seiner Wohnung keinen Platz für einen Baum. Er feiert mit seiner Partnerin Weihnachten. Die beiden schenken sich nichts mehr. Er sei «nicht so der materielle Typ». Das meiste bekomme er von «Surprise», einen Gutschein etwa oder ein Weihnachtsessen. Sein liebstes Weihnachtsgericht sei Fondue chinoise oder «etwas Fleischiges».
Über die Festtage würde André gerne irgendwohin. Er hat nicht die Möglichkeit zu reisen – «doch Träume muss man haben.» Um Weihnachten verkaufe sich «Surprise» besser, und er erlebe dabei schöne Begegnungen. Die Menschen seien offener für gute Taten und geben ihm mehr Trinkgeld, was ihn freut.
André wünscht sich gute Gesundheit, einen insgesamt besseren Zeitungsverkauf und dass es nicht so stressig zu- und hergeht. Wer am Existenzminimum lebe, werde demütig und brauche nicht mehr viel – Respekt und Anerkennung, ab und zu eine warme Suppe oder eine Einladung zum Essen.
Wichtig sei vor allem, dass man «täglich ein warmes Bett» habe. Armut sehe man den Leuten in der Schweiz nicht an. «Es leben viel mehr am Existenzminimum, als wir uns vorstellen können», sagt André und packt sein Bündel Zeitungen zusammen.