Lebt mit seiner Familie seit drei Jahren in El Salvador: Andreas Hugentobler. Foto: zVg
Weihnachten südlich der Grenze
Andreas Hugentobler Alvarez lebt seit 2014 mit seiner Partnerin Betsaida und der Tochter Paula in El Salvador und arbeitet dort als Befreiungstheologe
Von Andreas Hugentobler*
«In jenen Tagen erliess der neu ernannte Präsident der Vereinigten Ländern des Nordens den Erlass, dass alle in seinem Lande ansässigen Bewohner an ihren H eimatort zurückkehrten, um sich dort einen neuen Pass ausstellen zu lassen. Danach würde er eine Mauer entlang der Grenze errichten und nur jene einreisen lassen, die während ihrer Anwesenheit im Norden keine Schulden angehäuft, die Steuern bezahlt und nie gegen die geltende Moral des weissen Nordens verstossen hätten. Damit die Rückkehrerschlange jener untadeligen, zuverlässigen Migranten nicht allzu lang würde, schloss der Präsident ein Abkommen mit organisierten Banden südlich der Grenze, welche die Flüchtlinge mittels gängiger Praktiken an einer Einreise hindern würden. So trete endlich Ruhe und Ordnung ein in den Vereinigten Ländern des Nordens.»
Weihnachten war für mich als Kind stets das grosse Fest der Familie, des glücklichen Jesuskindes, der Sprüchlein und der wohligen Atmosphäre mit Geschenken und Gästen. Später als Jugendlicher entstanden erste Risse in der Weihnachtsidylle. Die Harmonie war nicht immer harmonisch, die Geschenke machten nicht immer glücklich und die Weihnachtslieder tönten bald sehr kitschig.
Nun bin ich 34 Jahre alt und lebe mit meiner Familie seit drei Jahren südlich der Grenze der Vereinigten Staaten. Mein Zuhause ist El Salvador, ein kleines Land in Zentralamerika mit sieben Millionen Einwohnern, zweieinhalb davon leben als sogenannt «illegale» Migrantinnen in den USA.
Weihnachten, so erlebe ich hier bei den Basisgemeinden, ist das tägliche Fest des Teilens, der Einfachheit. Zur Weihnachtszeit einfach etwas bewusster erlebbar, beispielsweise beim nächtlichen Herberge-Gesang (posadas), beim Wandmalen mit Kindern, bei der Kaffee-Ernte in Grossgruppen oder beim Gedenkanlass an das vor drei Jahren ermordete Gemeindemitglied.
Das Weihnachten der Armen, der nadies (der für das System Bedeutungslosen), ist deshalb ein alltägliches Fest, weil praktisch alles so ist wie immer, mit der Ausnahme, dass sie sich für einmal ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit wissen, der Aufmerksamkeit Gottes wohlverstanden. Ein überaus wertvoller Kontrast zum Weihnachtsfest der dominierenden Konsumgesellschaft, in der der grösste Truthahn, das schönste Abendkleid und der mehrstündige Gottesdienstbesuch zählen...
Diese beiden derart unterschiedlichen Formen von Weihnachten sind Spiegel einer tief gespaltenen Gesellschaft. In El Salvador gibt es noch immer keine Besitzsteuer, die jährliche Steuerflucht beträgt über zwei Mrd. USDollar. Die Geschicke des Landes – obschon seit 2009 «links» regiert – werden weiterhin von den Urenkeln der spanischen Eroberer bestimmt, die mit Kreuz und Schwert das Land unter päpstlichem Erlass in Besitz nahmen. Nicht nur die soziale Schere, auch die Migrationsströme nehmen zu, denen sich heute nicht nur Menschen aufgrund ihrer Armut anschliessen, sondern vermehrt auch, weil sie an Leib und Leben bedroht werden.
Es sind die Übriggebliebenen jener Viertel, in denen niemand mehr leben will, weil dort nicht der Staat, sondern sein Schatten, das organisierte Verbrechen, regiert. Daneben protzt die Welt der Golfplätze, Superkirchen, Panzerautos, Wirtschaftsoligarchie und faschistischer Parteien. Und natürlich bezahlen die wenigsten dieser Reichen Steuern. Es ist wie zu Zeiten Jesu: Tribute für Tempelhierarchie, Gouverneur und Imperium bezahlen die einfachen Leute mit der Frucht ihrer Arbeitskraft, die anderen spielen eine Liga höher. Und die Justiz, in der Hand der Mächtigen, zementiert die Klassengesellschaft eines entfesselten Kapitalismus.
Ein x-beliebiges Neugeborenes am Rande...
Wozu also Weihnachten feiern? Oder besser: Wie Weihnachten feiern, damit sie nicht einer entfremdenden, für die Armen zynischen Romantik verfällt? Auch in El Salvador ist Weihnachten längst kultureller Konsumzwang, in dem man sich das dem Jesuskinde «Würdige» notfalls mit Kredit erkauft. Dabei wird mit etwas Sozialgeschichte schnell klar, dass die Geburt Jesu, wie sie Lukas schildert, nichts, aber auch gar nichts mit dieser erkauften Weihnachtsidylle zu tun hat.
Das Zeichen, mit dem der neugeborene Messias erkannt wird, ist kein Palast, keine Auszeichnung, kein Kampagnenerfolg, sondern ein armes, obdachloses Neugeborenes in Windeln gewickelt. An ih mwird der Retter erkannt! Ein äusserst verwechselbares, ja x-beliebiges Zeichen, mit dem Lukas den Messias identifiziert. Als ob er damit sagen möchte, kommt überhaupt nicht drauf an, welches Kind du findest, Hauptsache eines dieser armen, tausendfach gesehenen und immer wieder weggeschauten Kinder, die im Schatten der Gesellschaft aufwachsen – schaut sie euch an und seht wie sehr sich in ihnen der Gott der Armen und Ausgebeuteten wiederspiegelt!
Schütze und hüte mich, wenn du mich magst!
Lukas bringt in der Weihnachtserzählung ein zweites Moment: Für einmal ist Gott nicht jener, der die Probleme löst, ist weder Schöpfer noch Richter, sondern selber Geschöpf. Er ist pures Leben, Unschuld, Zärtlichkeit. Viel mehr als andern zu helfen, benötigt er Zärtlichkeit und Hilfe. Ein zuwendungsbedürftiger, fragiler Gott – kein ewiger, enthobener, überlegener – sondern Geschöpf, das unser aller Zutun braucht.
Fast so wie die Überlebenden des Náhuat-Volkes, die uns ermahnen, dass es auf unserem Planeten nur Leben geben kann, wenn wir unserer fragilen Mutter Erde mit derselben Zärtlichkeit und Dankbarkeit begegnen, wie wir sie einem Kleinkind zu schenken bereit sind. Das heisst für sie in der Aktualität: Sich dem weltweiten Imperium der rohstoffhungrigen, suizidären Grosskonzerne widersetzen, die in Rekordtempo die letzten zusammenhängenden Urwaldsysteme rhoden, Bergbauminen eröffnen, Erdöl fördern und dabei Wasserressourcen vergiften, das Klima aufheizen, Umweltaktivisten verfolgen und letztlich als Verantwortliche für den Kollektiv-Suizid der Menschheit in die Geschichte eingehen werden.
Angesichts dieser Bedrohung heisst die aktuelle Strategie vieler sozialer Bewegungen: Verteidigung ihrer Territorien. Denn nur wenn wir unsere Erde nicht länger als «Rohstofflager» betrachten, sondern als gemeinsamer Lebensraum voller lebensnotwendiger «Güter», können wir den globalen Wachstumswahnsinn stoppen und das Überleben auf unserem Planeten als höchste Maxime anstreben. Deshalb sagen unsere Maya-Geschwister, dass nur die dankbaren Geschöpfe leben werden, die Stolzen dagegen vernichtet würden, weil sie die Harmonie unter den Geschöpfen zerstörten.
Auch die Klimakonferenz in Paris hat dies vor einem Jahr erkannt, doch dem Abkommen muss eine ernsthafte Praxis des Hütens und Schützens folgen. Deshalb fragt Lukas in der Weihnachtserzählung: Vermag die Geburt des göttlichen Kleinkindes uns das Hüten und Schützen lehren, um Leben auf unserem Planeten zu erhalten?
Die Freude Gottes ist der Friede unter den Menschen!
«Friede den Menschen auf Erden ist die grosse Freude Gottes in der Höhe...» (Lk 2,14). Eine 2000-jährige Weihnachtsutopie des Friedens. Damit tue ich mich am schwersten. Wie im Jahr 2016 diese Friedensverheissung lesen? Wie ist Aufstehen für diesen Frieden heute möglich, inmitten eines übermächtigen Imperiums mit neuen Namen alter Eliten sowie einer erstarkten Politik des Ausschlusses und der Dominanz? Und was geschieht mit den randständigen Hirten, denen diese Friedensnachricht zuteil wurde?
Ein Mitglied unserer Basisgemeinde formulierte es so: «Das Monster hat eben verschiedene Gesichter, einige sind ganz freundlich wie der Obama – andere abstossend schrecklich wie der Trump. Doch letztlich geht es ihm nur darum, an Macht zu gewinnen und alles aufzusaugen, was seinen Gewinn steigert.» Die tägliche Gewalt mit durchschnittlich 25 Ermordeten in El Salvador ist nur ein Ausdruck dieser globalen, perversen, vielschichtigen Gewaltspirale eines Systems, das zum Monster wurde. Jene, die Sicherheit wollen, ziehen um, sperren sich in Sicherheitsviertel ein, bezahlen Freiheit gegen private Sicherheit. Daran freut sich das Monster, denn das erhöht seine Rüstungserträge, Bauaufträge, Konsumabsätze – und überlässt die verlassenen, «gefährlichen» Territorien seinen getreuen Untertanen, hier den maras (Jugendbanden) – dankbare Helfershelfer der Korruption und des organisierten Verbrechens.
Alle, die gehen konnten, sind längst gegangen, die Gebliebenen müssen sich arrangieren, gut 60% der Bevölkerung, alles Gebliebene. Lukas nennt sie die Hirten auf dem Felde: verraute Persönlichkeiten, mit vielen Wassern gewaschen, zahlreiche Stürme überlebt, immer mal wieder verdächtigt für so vieles... Doch mitten unter diesen verrauten Hirten werden Kinder geboren, Blumen gesät, Kaffees gekocht, Wasserleitungen geflickt, Velos repariert, Freundschaften geschlossen, Mais gesät. Kinder springen spielend, manchmal streitend durch die engen Gassen, Pfingstkirchen und Charismatiker singen oder schreien zu Gott, damit er auch ja hinhört.
Die Grossmütter erzählen von ihren Enkeln, die fernab der Heimat leben, und trauern um andere, die nie angekommen sind. Jugendliche streifen durch die Gassen auf der Suche nach einem guten Fang, andere malen Slogans an die Wände. Die einen stimmen ein Lied an auf die Vermissten im Krieg, andere wippen im Reggaeton- Groove. Bunt und facettenreich geht es zu im Bethlehem El Salvadors.
Gott wird Mensch, nicht irgendwo, sondern bei den Gebliebenen, den zigmal Ausgewanderten und den nie Angekommenen, den Bedeutungslosen, den Nadies, bei den für alles verdächtigten Hirten von damals und heute... IHNEN gehört die zärtliche Aufmerksamkeit Gottes. Und gemeinsam mit IHNEN will er unsere Weltordnung und unseren Planeten wieder ins Lot rücken und Frieden sähen. Doch dazu braucht es jene, die sich an die Ränder aufmachen, um das x-beliebige arme, obdachlose Neugeborene zu suchen und ihm zu folgen. Wer kommt mit?
*Andreas Hugentobler Alvarez lebt seit 2014 mit seiner Partnerin Betsaida und der Tochter Paula in El Salvador. Als Befreiungstheologe begleitet er das Basisgemeindenetz im Departement La Libertad. Mitten in einem Klima struktureller und krimineller Gewalt sucht dieses nach Wegen, öffentlichen Raum zu gestalten und lokale Netze zu stärken. Auf ihrem Blog können neu komponierte Weihnachtslieder aus ihrem Jugendprojekt gehört werden: www.ecosdelpulgarcito.wordpress.com