Weiter nach Osten
Buchtipp aus der ökumenischen Buchhandlung voirol
Für Sie gelesen – gelesen von Séverine Décaillet
Aljoscha, 20 Jahre alt, einer von vielen jungen Zwangsrekrutierten, eingepfercht in der dritten Klasse der Transsibirischen Eisenbahn. Unterwegs in Richtung Osten, ohne genau zu wissen, wo die Zugreise enden wird. Hélène, eine Französin in den Dreissigern, ebenfalls unterwegs in der Transsibirischen Eisenbahn in Richtung Osten, komfortabler allerdings in der ersten Klasse. Er auf dem Weg in die absolute Unfreiheit, sie auf dem Weg in die Freiheit.
Aljoscha hat bis zum Schluss versucht und gehofft. Vergebens. Im fehlte das Geld, die Beziehungen, das Glück, um der Zwangsrekrutierung zu entgehen. Aus Angst vor dem Militärlager in der Einsamkeit Sibiriens kreisen seine Gedanken um die Flucht. Ein erster Versuch scheitert und er trifft auf Hélène, die schon auf der Flucht ist, einer geglückten Flucht, einer Flucht aus einem Leben, dass sie nicht mehr weiterleben kann. Obwohl sie sich nicht unterhalten können, scheinen sie sich zu verstehen. Sie sieht seine Not und nimmt ihn mit in ihr Liegeabteil und versteckt ihn. Das Liegeabteil wird zum Schauplatz eines Kammerspiels.
In überaus bildhafter und poetischer Sprache schreibt Maylis de Kerangal von dieser Begegnung zweier Menschen, deren Schicksal unterschiedlcher nicht sein könnte. Auf engstem Raum, getrennt durch die Sprache, aber vereint in ihren Ängsten und ihrer jeweils existenziell zugespitzten Situation, bildet der Wunsch nach Selbstbestimmung und Freiheit das Band zwischen den beiden.
Der hier vorgestellte Roman der französischen Autorin Maylis de Kerangal ist bereits 2012 in Frankreich erschienen. Nun wurde er auch ins Deutsche übersetzt und im Suhrkamp Verlag herausgegeben. Diese zwölf Jahre seit der Ersterscheinung sind dem Roman nicht anzumerken. Genauso gut passt er ins Heute. Man erschrickt ob der Aktualität, die ja eigentlich keine ist.
Für die «New York Times» ist es eines der besten Bücher des Jahres 2023 und für meine Wenigkeit ein Buch, rasant und dicht erzählt auf knapp 90 Seiten, das sich unbedingt zu lesen lohnt.
Maylis de Kerangal, Weiter nach Osten, Suhrkamp 2024, 91 Seiten, 27.90.