Foto: Reuters (Palästinenserin und israelischer Grenzpolizist)

«Weniger Kriege, wenn Macht mit Frauen geteilt wird»

28.10.2022

Der Anthropologe und Zoologe Carel van Schaik im Gespräch

Der Anthropologe und Zoologe Carel van Schaik erklärt, warum Menschen den Krieg erfanden und dass sich der Impuls zu kämpfen ein- und ausschalten lässt. Er glaubt zu wissen, was die Welt letztlich friedlicher macht.

von Tilmann Zuber

«zVisite»: Carel van Schaik, lange glaubte die Politik in Europa, man könne durch Handel den Frieden sichern. Wie der Krieg in der Ukraine nun zeigt, liegt man da falsch.

Carel van Schaik: Die Idee Wandel durch Handel ist nicht schlecht. Länder, die wirtschaftliche Beziehungen pflegen, führen tatsächlich weniger Kriege. Auch zeigen die Statistiken, dass Demokratien weniger Kriege anfangen. Das Problem im Ukrainekrieg ist, Russland ist zwar mit dem Westen wirtschaftlich verbunden, ist aber keine Demokratie. Deshalb kann Putin die «militärische Sonderoperation» ungehindert durchführen.

Gehören Aggression und Krieg zur DNA der Menschheit?

Lassen Sie mich zuerst vom Wesen des Menschen reden. Der Mensch wird von einer Psychologie des Krieges bestimmt, die sich sozusagen ein- und ausschalten lässt. Vor allem bei Männern findet sich diese Veranlagung: Wenn sie sich als Gruppe bedroht fühlen und die Emotionen hochkochen, schalten sie reflexartig in den Angriffsmodus.

Nach den Anschlägen von 9/11 in den USA, zeigte sich dieses Phänomen deutlich: nach dem brutalen Angriff, bei dem tausende Menschen starben, wollten die US-Bürgerinnen und Bürger Vergeltung, riefen nach einem Führer und forderten einen Militärschlag. Diese Psychologie des Krieges nutzen die Autokraten, um die Menschen zu manipulieren. Das hat -Hitler getan, das tut Putin. Auch er präsentiert den Krieg gegen die Ukraine als Verteidigung Russlands gegen den amerikanischen Aggressor, der die «Faschisten» in Kiew unterstützt.

Sie sind Zoologe und Anthropologe: Stimmt Friedrich Dürrenmatts Aussage, der Mensch sei ein Raubtier mit manchmal humanen Ansätzen?

Ja und nein. Evolutionsgeschichtlich betrachtet sind wir eine ungewöhnliche Affenart, weil wir uns zu Fleischfressern entwickelten. Unsere Vorfahren waren das nicht. Doch gibt es auch Jäger und Sammler, die sich grösstenteils vegetarisch ernähren. Der Mensch ist nicht -notgedrungen ein Raubtier. Das ist nicht so tief in unserer DNA verankert. Sonst könnte man den heutigen Höhenflug des Vegetarismus und Veganismus nicht erklären.

Sind Tiere friedlicher als Menschen?

Manche Beutegreifer, Löwen zum Beispiel, führen vielleicht so etwas wie Kriege, denn ein Rudel kann tatsächlich Artgenossen umbringen. Aber Löwen veranstalten keinen Genozid. Doch der Vergleich mit den -Tieren hinkt, man versucht hier animalisches Verhalten in menschlich moralische Kategorien zu pressen, um daraus Schlüsse für den Menschen zu ziehen. So ungefähr wie: wenn Löwen-gruppen sich gegenseitig -töten, sollte das bei uns doch auch irgendwie akzeptabel oder sogar wünschenswert sein. Das ist ein Fehlschluss.

Anders gefragt: Braucht der Mensch die Zivilisation, die seine Aggressionen bändigt?

Im Gegenteil. Geht man in der Menschheitsgeschichte zurück in die Zeiten, als es keine Staaten gab, so kann man ethnografisch und archäologisch zeigen, dass Kriege selten waren. Es gab zwar vereinzelt Überfälle auf andere Stämme, aber keine Kriege mit grossen Heeren, Waffen, Belagerungen und Besatzungen. Das änderte sich erst, als gewisse mobilen Jäger und Sammler ab etwa 10 000 v. Chr. anfingen sesshaft zu werden, und die Landwirtschaft allmählich intensiver betrieben wurde. Ab dann wurden Festungen gebaut und Waffen entwickelt.

Als es noch keine Staaten gab, waren Kriege selten.

Intensive Landwirtschaft bedeutet reiche Ernten und Besitz. Löst dies Gier und Neid aus?

Ja, man will ja seine Vorräte und seinen Besitz verteidigen und es kommt zum Krieg. In der Geschichte gibt es jedoch auch eine gegensätzliche Entwicklung. Betrachtet man nur die Demokratien der letzten zwei Jahrhunderte, so zeigt sich, dass die Bereitschaft zum Krieg nachlässt.

Welche Rolle spielt die Religion beim Thema Krieg und Frieden?

Mit der Staatenbildung entstanden Religionen, die Götter verehren und -Opfer darbringen. Die frühen Könige um 3000 v. Chr. waren gleichzeitig Priester oder sie wurden nach ihrem Tod vergöttlicht. So verbinden sich die Zivilisation und Macht mit der Religion und dem Glauben. Religionen wie das Christentum oder der Buddhismus entstanden als eine Reaktion auf die unsozialen und kriegerischen Staaten, die sich der Religion bemächtigt hatten.

Diese neuen Religionen versuchten, die Gesellschaft und Menschen zu befrieden. Sie predigten Nächstenliebe, Barmherzigkeit und soziale Gerechtigkeit. Doch wie wir wissen, wurden später, als das Christentum Staatsreligion geworden war, auch im Namen Christi Länder angegriffen. Und man hat versucht, Völker und Minderheiten zu bekehren oder zu eliminieren. Mit Hilfe der Religionen wurde immer wieder Men-
schen ihr Menschsein abgesprochen, aber das kann auch ohne Religion geschehen.

Dabei predigen die Religionen doch, dass alle Menschen Kinder Gottes sind.

Sicher, so konnten sie zum Frieden beitragen. Aber Religionen pochen meistens auf Zusammenhalt und Toleranz innerhalb der eigenen Gesellschaft und verteufeln all jene, die nicht an ihren Gott glauben. Die Kirche sprach Indigenen rund um den Globus die Menschenwürde ab. Die Priester diskutierten, ob sie die Einheimischen als Heiden töten, oder doch taufen und christlich unterweisen sollten.

Wurden Religionen auch benutzt, um die Macht der Herrschenden und Kriege zu legitimieren?

Soziale Ungleichheit gefährdet den Staat und das Zusammenleben. Wenn nur die Elite über Besitz verfügt, während der Grossteil der Bevölkerung hungert, droht die Gesellschaft zu zerbrechen. Aber wenn ein König sich auf göttliche Unterstützung berufen kann, ist es schwieriger für das Volk sich effektiv dagegen aufzulehnen. So wurde Religion zur Waffe der Mächtigen. Die christliche Urgemeinde war eine Reaktion darauf. Sie war eine egalitäre – ich würde sogar sagen kommunistische – Gemeinschaft, die friedlich zusammenlebte und den Besitz teilte.

Wie wichtig ist die Frage der Gerechtigkeit bei Konflikten?

Zwischen Individuen spielt die Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. Wenn es gelingt, Konflikte und Groll zu beseitigen, dann herrscht Frieden. Die individuelle Ebene lässt sich jedoch nicht direkt auf die gesellschaftliche, und insbesondere die staatliche, Ebene transformieren. Zwischen Staaten hat die Frage der Gerechtigkeit weniger Bedeutung. Hier herrscht oft Realpolitik, die sich an anderen Faktoren orientiert.

Auf der anderen Seite zeigt die Geschichte in Europa nach dem 1. Weltkrieg, dass das Gefühl in der Bevölkerung, ungerecht behandelt worden zu sein, durchaus ernst genommen werden sollte. Die Deutschen sahen sich als Opfer der Versailler Verträge, was zu jener Stimmung beitrug, die schlussendlich zum 2. Weltkrieg führte. Wie gesagt, auf staatlicher Ebene sind solche Prozesse komplex und anfällig für Manipulationen und Fake News.

In vielen Religionen gehört der Frieden, Schalom oder Salam zur Verheissung. Ist dieser Friede eine Utopie oder lässt er sich in der Realität umsetzen? Wird das Schaf neben dem Wolf einst friedlich grasen?

Bei diesen Vorstellungen ist nicht klar, ob man von Konflikten inner-halb der Gesellschaft, die man ausräumen könnte, redet, oder von Kriegen zwischen Staaten. Fest steht, die meisten Menschen wollen in Frieden leben. Das ist eine alte Sehnsucht der Menschheit.

Wird die Welt friedlicher, wenn Frauen an der Macht sind?

Ich würde diese Frage gerne mit Ja beantworten, aber dieses Experiment wurde bisher nicht gemacht. Das Matriarchat hat es nie gegeben. Es lässt sich jedoch feststellen, dass es weniger Kriege gibt, wenn die Macht mit den Frauen geteilt wird und die Strukturen demokratisch sind.

Zum Schluss: Was macht die Welt friedlicher?

Bildung. Dafür gibt es gute Beispiele wie die Schweiz, die seit Jahrhunderten keinen Krieg mehr geführt hat, trotz internen Sprachunterschieden, verschiedenen Konfessionen und Regionen.
 

Erstpublikation in der «zVisite»

Carel van Schaik (69)
Carolus Philippus «Carel» van Schaik ist ein niederländischer Zoologe und Anthropologe. Von 2004 bis 2018 war er Professor und Direktor des Instituts und des Museums für Anthropologie an der Universität Zürich. ­Seine Bücher «Das Tagebuch der Menschheit» und «Die Wahrheit über Eva», die er zusammen mit dem Historiker Kai Michel verfasste, erregten grosses Aufsehen.