Ivica Petrušić und Hafid Derbal besingen auf ihrem neusten Album «Ringišpil», was Menschen umtreibt. Foto: Paul Märki
«Wenn Gedanken und Gefühle frei werden, kann Transformation geschehen»
Elf Leute, sechs Sprachen: keine Fussballmannschaft, sondern «Šuma Čovjek», eine Schweizer Band mit Migrationshintergrund. Ivica Petrušić und Hafid Derbal besingen auf ihrem neusten Album «Ringišpil», was Menschen umtreibt – Themen wie Identität, Verantwortung, Glaube, Freundschaft und Hoffnung.
Interview: Anouk Hiedl
«pfarrblatt»: Soeben ist euer drittes Album «Ringišpil» herausgekommen. Warum dieser Titel?
Ivica Petrušić: Alle Balkansprachen verwenden dieses deutsche Lehnwort für Karussell. Darin steckt, wie wir uns als Liveband verstehen, unser Singen, Erzählen und Teilen von Geschichten. Wir geben im Konzert etwas rein, wissen aber nicht, was rauskommen wird. Erst wenn wir das Karussell im Konzert drehen, erleben wir, was beim Publikum wie wirkt.
Wenn die Gedanken und Gefühle frei werden, kann diese Transformation geschehen – das ist fast mythisch, religiös. In vielen unserer Songs besingen wir diese Spirale ausserhalb des Rationalen, die je nach Zeit, Ort und Tagesverfassung immer wieder eine neue Dynamik bekommt.
Eure Grafikerin hat sich für das Albumcover von «Ringišpil» etwas Besonderes einfallen lassen …
Hafid Derbal: Kristina Kekić hat für jeden Song ein plastisches Objekt kreiert, dieses durch eine Zentrifuge geschickt und aus dem Resultat ein Symbolbild gestaltet. Diesen Objekten ging es wie uns: Wenn du etwas rausgibst, passiert mit allen Beteiligten etwas – das ist «Ringišpil».
Ivica: Im Song «Responsable» geht es darum, Verantwortung zu übernehmen. Wo ich herkomme, stehen Männer, Frauen und die queere Szene ganz anders da als hier. Wie können wir in Transformationsprozessen respektvoll Verantwortung übernehmen, sodass man vorwärtskommt? Kristinas Symbol für diesen Song war eine erhobene Faust. Als diese aus der Zentrifuge rauskam, war daraus etwas anderes geworden.
Hafid: Wir überlegen uns bei jedem Song: Was wollen wir damit erreichen? Wie überladen wir ihn nicht? Wie können wir Transformation schaffen, ohne laut zu werden, ohne ins Extreme zu gehen? Mit der kulturellen Vielfalt in unserer Band wollen wir Brücken bauen und Konsens finden.
Ihr besingt, was Menschen verbindet. Inwiefern kommen Religion und Glaube vor?
Ivica: Ich bin katholisch aufgewachsen, im muslimisch-sozialistischen Umfeld Bosniens. Spiritualität ist mir wichtig. Auf «Ringišpil» handelt der Song «Mythus» von christlichen Grundsätzen und innerem Frieden.
Hafid: Ich habe einen muslimisch-algerischen Vater und eine deutsch-katholische Mutter. Die duale Weltsicht unserer monotheistischen Gesellschaften auf Gut und Böse sehen die einen philosophisch und die anderen spirituell. Das hat mit Background und dem Verhältnis zu Religion zu tun. Ivica ist im Jugoslawienkrieg aufgewachsen, ich im Algerienkrieg. Wir haben erlebt, wie Zugehörigkeit gegeneinander ausgespielt wird und Identität mörderisch werden kann. Wir haben uns kritisch mit unseren Heimatländern auseinandergesetzt und sind offen und wohlwollend geblieben. Wir wollen Dinge benennen, die wir für falsch halten und Gutes in der Gesellschaft verstärken.
Ihr singt in bis zu sechs Sprachen. Zofft ihr euch manchmal, welche für ein Lied die «richtige» ist?
Hafid: Wie wir eine Geschichte erzählen wollen, ist sehr intuitiv. Wenn etwas inhaltlich oder vom Gefühl her nicht mehr stimmt, schreiben wir den Song um. Bei «Mitte 30», heute «Ti i ja» (Du und ich), war das so. Da kann sich auch die Sprache ändern.
Wie ergänzt ihr euch?
Hafid: Mal bauen Ivica und ich komplett aufeinander auf, mal haben wir ein Bild, und jeder kann in seine Richtung singen. Bei «Oh draga» (Oh Liebste) denke ich an meine Schwester und all das Gute, das ich mit ihr verbinde. Ivica hingegen verbindet den Song mit der weiblichen Urkraft von Mutter Erde. Das ist spannend, denn scheinbar widerspricht sich das. Vieles, das uns nahegeht, ist vom Autor anders gemeint. Unfassbar schön ist, dass man sich die Lieder selbst aneignen kann.
Wie entstehen eure Songs?
Ivica: Hafid, unser Produzent Manuel Wülser und ich treffen uns regelmässig, um Lieder zu entwickeln. Das ist ein laufender kreativer Prozess aus Melodien, Akkorden, Sprachen und Geschichten. Das klingt lässig, ist aber manchmal anstrengend. Verschiebt jemand etwas, zieht das einiges nach sich. Alles baut aufeinander auf.
Hafid: Letzthin erzählte uns Ivica, was er geträumt hatte und mit welcher Melodie. Mit Manuel am Klavier probieren wir dann anhand solcher Ideenfetzen aus. Songs entwickeln ist schön und harte Arbeit – wie in einer Beziehung. Man muss dranbleiben.
Welchen Song auf «Ringišpil» mögt ihr am liebsten?
Hafid: «Point d’ancrage» ist mir am nächsten. Darin erzähle ich vom Ankommen und Sich-heimisch-Fühlen. Alles, was meine Eltern aufgebaut hatten, war von einem Tag auf den anderen weg. Sie wanderten aus, mussten in einer neuen Welt zurechtkommen, und ihre Liebe ist daran zerbrochen. Nun führe ich ihre Geschichte fort: Ich bin heute hier zu Hause, hier geht’s meinen Kindern gut, und zum ersten Mal weiss ich, wo ich beerdigt werden möchte: in Aarau.
«Šuma Čovjek» in Kürze
Die Musik der Schweizer Band «Šuma Čovjek» (kroat. Waldmensch, sprich «Schuma Tschovjek») reicht von melancholischen Balladen über Orientbeats und Chansons bis hin zu rhythmischem Balkan-Pop und orchestralem PolkaHip-Hop. Die Lieder sind mehrsprachig, nicht selten politisch. Die Sprache – Arabisch, Deutsch, Mundart, Französisch, Serbokroatisch und Spanisch – wechselt oftmals innerhalb der einzelnen Strophen oder Sätze. Nach «No Man’s Land» (2018) und «Fata Morgana» (2022) kam im Oktober 2024 ihr drittes Album «Ringišpil» heraus.
Konzerte:
Sa. 2. November, 20.30: Plattentaufe «Ringišpil», KIFF, Aarau
Fr. 15. November, 20.30: Gaskessel, Bern
Mo. 23. Dezember, 20.30: KreuzKultur, Solothurn
Sa. 4. Januar 2025: 20.00, Casino Theater, Burgdorf
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