«Wenn ich Gott verstehen könnte, müsste er kleiner sein als ich»

Gabriele Berz-Albert, Pfarreileiterin in Spiez, geht nach 38 Jahren im Bistum Basel in Pension.

Gabriele Berz-Albert, Pfarreileiterin in Spiez, hat 38 Jahre lang für die Kirche im Bistum Basel gearbeitet. In dieser Zeit hat sie vieles mit bewegt und eckte auch mal an – als Katholikin, als Frau und als Deutsche. Ende August geht sie in Pension: ein Rück- und Ausblick.

Aufgezeichnet von Anouk Hiedl / Fotos: Pia Neuenschwander

«In meiner Heimatpfarrei war ich die erste Ministrantin. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil herrschte Aufbruchstimmung. Der Pfarrer unterstützte mich, aber die Jungs akzeptierten mich erst als Ministrantin, als ich beim gemeinsamen Fussballspielen ein Tor schoss. Seitdem denke ich: Auch in der Kirche muss man manchmal die Energie anders einsetzen als gedacht, um Dinge zu bewegen.

Bei meiner ersten Anstellung als Pastoralassistentin in Zug war ich die erste Frau. Der Anstellungsbehörde war klar: ‹Entweder wir nehmen sie, oder wir haben niemanden.› Seither hat sich viel gewandelt. Anfangs hiess es: ‹Wir können uns keine Frau da vorne vorstellen.› Heute höre ich: ‹Wir können uns nicht mehr vorstellen, dass da vorne nur Männer stehen.› Die Leute haben erfahren, dass das Anderssein und -denken von Frauen auch in der Kirche bereichernd sein kann.

Die grösste Veränderung aber war für mich der Bedeutungsschwund der Volkskirche. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dazuzugehören. Jene, die noch mitmachen, sind kritischer und übernehmen mehr Verantwortung. Das Bewusstsein, dass alle berufen sind, die Botschaft Christi weiterzutragen, muss noch stärker werden, nicht im Sinne von ‹wir müssen der Berz jetzt helfen›, sondern von ‹alles, was wir miteinander im Geist Gottes tun, ist Kirche – nicht nur innerhalb der Kirchenmauern›.

Immer weniger Eltern schicken ihre Kinder in den Religionsunterricht. Doch jenen, die es tun, ist es wichtig. Das christliche Selbstbewusstsein ist anders geworden. Sonntags muss man sich entscheiden, ob man ans Fussballturnier, ins Konzert oder in die Kirche geht. Mir ist es wichtig, das nicht gegeneinander auszuspielen und nicht zu moralisieren. Mit dieser Realität müssen wir einfach leben, und ich hoffe, dass sich da neue Türen auftun.

2017 kam ich nach Spiez – ein Kulturschock! Nach 18 Jahren Pfarreiarbeit im Luzernischen war ich neu in der katholischen Diaspora und hatte mit Menschen zu tun, die wie ich aus anderen Kantonen und Ländern zugereist waren. Vielen ist die Pfarrei mit dem Kirchenkaffee nach dem Gottesdienst ein Stück Heimat. Das ist wichtig. Ein ebenso grosses Anliegen ist mir, das ökumenische Miteinander zu pflegen sowie eine klare Position und Stellungnahme zu sozialen, gesellschaftlichen und politischen Fragen zu beziehen.

Gott will mehr als geordnete Gebete.

Gabriele Berz

Wohin die Wege der Kirche in Zukunft führen, ist schwierig zu erkennen. So frage ich mich ab und zu: Wofür habe ich meine Arbeits- und Lebenszeit eingesetzt? Ich würde lieber einen blühenden Garten als ein Stück Wüste verlassen. Der Weg durch die Wüste ist für mich immer mehr zum passenden Bild für die Kirche geworden. Wir alle sind unterwegs – mit Hunger in der Seele, Wunden an den Füssen und Sehnsucht im Herzen. Unterwegs muss man mit Verlusten umgehen. Doch Gottes verheissenes Land und die Gemeinschaft auf dem Weg helfen, mit Wüstenerfahrungen und Durststrecken umzugehen.

Ich bin bei allem tief überzeugt, dass Gott mit Wohlwollen und Liebe immer schon da ist, auch in herausfordernden und schwierigen Zeiten. Ich muss nicht ‹machen›, dass er sichtbar wird, sondern kann die Menschen dazu ermutigen, im Alltag miteinander Spuren seines Reichs zu entdecken. Das hat mich sehr davon befreit, bei kirchlichen Anlässen die Leute zu zählen, nach sichtbarem Erfolg zu fragen und ständig die Qualität von Dingen zu bezweifeln, die wir in der Kirche gemeinsam machen. Wenn Gott die Menschen frei geschaffen hat, sind sie halt auch frei zu sagen: ‹Ich will ohne Gott und Glauben leben.› Kommen nicht viele, müssen wir nichts falsch gemacht haben, sondern es ist ihre gottgegebene Freiheit, die sie Nein sagen lässt. Gott will nicht in erster Linie irgendeine Kirche, sondern das geglückte Leben für alle. Ob dazu für alle Menschen Kirche nötig ist, weiss ich nicht, es ist für mich nicht entscheidend.

Diskussionen um die Kirchenzukunft führe ich selten. Sie frustrieren mich, wenn die Frage nach der Erhaltung der Kirche wichtiger wird als die Suche nach dem, was Gott mit uns und seiner Welt vorhat und was wir tun können, damit sein Wille geschieht. Es macht mich traurig, wenn sich Menschen aus den kirchlichen Strukturen zurückziehen, weil sie bei uns die spirituelle Heimat nicht mehr finden, nach der sie sich eigentlich sehnen.

Die Frage, wer Jesu Botschaft in die Zukunft tragen wird, beschäftigt mich sehr. Wie geht es mit der christlichen Weggemeinschaft weiter, in der viele Menschen erfahren haben, dass sie trägt und Mut macht? Jesu Botschaft von Gott, der das Leben für alle will, muss weitergegeben werden, auch wenn die Strukturen, die sie weitertragen, brüchig werden. Deshalb ist es wichtig, die Sinne für das Göttliche auch ausserhalb von Traditionen und Strukturen zu schärfen, indem man etwa eine überraschende Begegnung als Geschenk von oben erkennt oder beim Wandern in einer Bergkapelle kurz innehält und sich für das öffnet, was einen von oben oder unten trägt. Letztlich geht es darum, im eigenen Leben immer einen Spaltbreit offenzuhalten für das Göttliche, das Geheimnis, das Mysterium. Da ist jemand oder etwas, das grösser ist als wir. Wenn nur noch gilt, was man erklären oder googeln kann, ist das ein Riesenverlust. Schon als Jugendliche dachte ich: Wenn ich diesen Gott in meinen Kopf bringen, ihn verstehen könnte, dann müsste er kleiner sein als ich. Und das will ich ja nicht.

Wir müssen auch eine Sprache finden, in der uns die göttliche Dimension zu einem lebendigen Gegenüber, einem Du wird. Wenn ich Kinder frage «Wofür möchtet ihr beten?», bekomme ich eine Liste von Antworten. Doch damit ist noch nicht gebetet. Beten geschieht erst, wenn ich mich an ein Du wende. Dass uns die Sprache, die uns den Zugang zu diesem Du ermöglicht, nicht verloren geht, das hoffe ich sehr.

Für die Zukunft wünsche ich mir, dass die Kirchen und Kirchenräume Orte des Durchatmens bleiben, wo man einfach sein kann und nichts muss. Wie schnell hat man das Gefühl, das sei zu wenig, man müsse doch etwas ‹machen›. Den Wert des Nicht-Müssens sollten wir sorgsam behüten. Darin sehe ich eine grosse Chance für unsere Kirchen. Menschen zu finden und zu berühren, ist zum Glück Gottes Aufgabe, nicht meine. Ich kann dafür Türen öffnen.

Mein Glaube lebt von einer Grundzuversicht und einem ‹Trotzdem›. In einem guten Sinne ‹trotzig› bin ich in der Kirche geblieben. ‹Trotzdem› gilt auch für mein Leben. Ich bin kein Mensch, der gern belehrt oder unterhält. In meinen vielen Seelsorgejahren habe ich es trotzdem gemacht, in der Hoffnung, dass man auch Dinge ordentlich tun kann, die man nicht so gern macht. Durch all die Jahre getragen und angetrieben hat mich die Reich-Gottes-Botschaft Jesu und die Überzeugung, dass Gott das Leben in Fülle für alle Menschen will. Der Glaube, dass Gottes Liebe sogar den Tod überwindet, ist mir zum Auftrag geworden, so gut ich kann, seine Lebensbotin zu sein.»

Gabriele Berz wird am Sonntag, 18. August, im Gottesdienst ab 09.30 verabschiedet: Kirche Bruder Klaus, Spiez 

Die Frau mit der goldenen Feder

Gabriele Berz hat zahlreiche lesenswerte «pfarrblatt»-Beiträge geschrieben.

«Der Zug hat Verspätung. (…) Ich stehe ungeduldig am Bahnhof, als ich plötzlich zu ahnen beginne, dass es ja an mir liegt, ob mir die Zeit, die ich herumstehe, genommen wird oder ob ich sie mir nehme: zum Schauen, zum Anhalten, zum Nachdenken. (…) Ein wenig beschämt wird mir bewusst, wie gedankenlos ich oft unterwegs bin.»
Aus: Geschenkte Wartezeit, September 2019

«Plötzlich weiss ich, worauf ich in diesem Jahr fasten will: Ich faste auf das schlechte Gewissen, nicht «richtig» zu fasten. (…). Ich (…) gebe mir höchstpersönlich drei Worte als Fastenbefehl, die da heissen: Mut zur Lücke.»

Aus: Im Denken, Tun und Lassen fasten, März 2022

«Ich mag es, wenn sie am Anfang eines neuen Jahres weiss und unbeschrieben vor mir liegt, offen für alles, was das neue Jahr bringen wird. (…) Am Ende des Jahres mag ich es, sie noch einmal ehrfürchtig durchzublättern und mich an viele Begegnungen und Episoden zu erinnern, bevor ich sie dann – nein, nicht wegwerfe! – in einer Schublade versorge. In diesem Jahr ist alles anders. (…) Wie vieles ist durchgestrichen, abgesagt, flüchtig ausradiert, unbestimmt verschoben.»

Aus: Alte und neue Agenda, Januar 2021

«Die Welt steht Kopf – und ich, mittendrin, schüttle den meinen. Vor Fassungslosigkeit. (…) Vor Unbehagen. Weil ich mir schon jetzt vorstelle, wie wir nach der Corona-Krise alles Verschobene nachholen und von den vielen Konzertbesuchen, Ferienreisen und Vereinsversammlungen ganz atemlos sein werden.»

Aus: Coronazeiten, April 2020

«Ganz selten nehme ich mir die Zeit, mich in ein Café zu setzen. (…) Es lohnt sich nicht, traurig zu sein, dass diese vielen Geschichten mich nicht zu einer Romanschreiberin machen. Schliesslich bin ich ja schon die Titelheldin im Buch meines Lebens, das Gott schon lange geschrieben hat. Immerhin.»
Aus: Geschichte(n) schreiben, November 2019

«Endlich Sommer (…). Man sollte sich schützen vor zu viel Sonne auf der Haut und zu viel Helligkeit in den Augen, vor dem Biss der Zecke und dem Stich der Mücke, vor dem Stickstoff und dem Ozon in der Luft. Und deshalb bin ich, während ich die Sommerhosenfreiheit geniesse, zugleich auch immer daran, die Freuden des Sommers abzuwehren: cremend, salbend, ölend, streichend, beschattend, verdunkelnd (…).»

Aus: Sommerschutz, Juni 2019

Valentin und so, Februar 2019