«Wer frei ist, folge mir»
Ein aussergewöhnlicher Opernabend in Bern gibt zu denken.
«Jesus predigt das Reich Gottes, und gekommen ist die Kirche.» Was der Theologe Alfred Loisy als realistische Anerkennung meinte, liest sich ohne Kontext als ironisch-ernüchtertes Bonmot: Die Diskrepanz zwischen dem gelebten und gepredigten Ideal Jesu und der historisch und aktuell erlebten kirchlichen Realität ist eklatant. Aber warum nur?
Von Jonathan Gardy
Weshalb bleibt die Institution der Kirche, welche allein auf der Frohbotschaft gründet, sie weitererzählt und verwirklichen will, in mancher Hinsicht weit hinter dem Evangelium zurück?
Ein überraschender Opernabend in Bern stellt die Zuschauer*innen vor genau diese Frage. «Król Roger» heisst das polnische Werk von 1926, welches zum ersten Mal überhaupt in der Schweiz aufgeführt wird. Das Konzerttheater wagt hier etwas – und begeistert. Die überzeugende Inszenierung der spannenden Themen (Regie: Ludger Engels) belohnt die Zuschauer*innen, die sich auf ein weitgehend unbekanntes Werk einlassen.
Zur Handlung: König Roger II. (Mariusz W. Godlewski) herrscht über ein streng religiöses Land, in welchem Gott auf die einzig rechte Weise verehrt wird. Darum hat alles seine feste Ordnung – bis eines Tages ein Hirte (Andries Cloete) im Land auftritt, der von Freiheit, Selbstsein und unbedingter Liebe predigt. Ein Skandal! Das Volk fordert vom König den Kopf des Gotteslästerers. Als es aber zum Gericht kommt, berührt der Hirte mit Wort, Gesang und Tanz nicht nur die Königin Roksana (Evgenia Grekova), sondern auch die einfachen Leute. Sie lockern ihre Krägen und Krawatten (Kostüme: Heide Kastler) und wagen die Freiheit. Nur der König ringt noch bis zuletzt mit sich: Soll er mit aller Macht die Ordnung wiederherstellen oder der Stimme seines Gewissens folgen? Denn die Botschaft des Hirten hat auch sein Herz berührt, hat Sehnsucht und Sinnlichkeit offengelegt. Schliesslich wagt Roger den Schritt und folgt dem Hirten – nicht als König, sondern als Pilger.
Die Oper hält den Kirchen den Spiegel vor: War nicht schon mal einer, der die erstarrte Religion seiner Zeit kritisierte, der von der Würde aller und geschenkter Güte sprach? Wie würde man heute reagieren, wenn er käme und sich in aller Sanftheit wiederholte? Wären wir inzwischen frei genug, ganz danach zu handeln?
Die Inszenierung stellt die Botschaft des Hirten auch in aktuelle Zusammenhänge: Darf ein christlicher König Männer lieben? Was muss er fürchten, wenn das Volk doch schon längst erkannt hat, dass die Liebe Gottes wirklich jedem Menschen gilt? Dass diese Frage nicht erst seit gestern drängt, macht das Schicksal des Komponisten deutlich: Im katholischen Polen seiner Zeit litt Karol Szymanowski selbst daran, seine Homosexualität verleugnen zu müssen.
«Król Roger» stellt mehr Fragen, als Antworten zu geben. Eines macht das Werk aber unmissverständlich deutlich: Eine religiöse Institution kann zwar Stabilität garantieren, nicht aber die Lebendigkeit der frohen Botschaft. Diese ist ganz und gar darauf angewiesen, dass ein Mensch auf das hört, was in seinem Inneren zu ihm spricht.
Weitere Aufführungsdaten: Dienstag, 17. März; Mittwoch, 3. Juni, Stadttheater Bern