hand of newborn baby who has just been born holding the finger of his father's hand.

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Wer hält wen?

26.12.2024

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge


Es war einst im Januar, eine junge Pflegende hielt ein kleines Mädchen auf der Neonatologie, der Station der Frühchen, in den Armen: Leonie* war damals fünf Tage alt. Sie war viel zu früh und schwer krank auf die Welt gekommen, ein winziges Geschöpf. Ihre Verdauungsorgane konnten sich aufgrund der Krankheit nicht ausbilden und sie konnte deswegen nur schwer flachliegen und wollte unablässig gehalten werden. Neben den Eltern hielten besonders auch die Pflegenden abwechselnd das kleine Mädchen in den Armen in rührender Hingabe. Im Tagebuch für Leonie, in der sich alle einschrieben, die ihr begegneten, stand einige Tage nach ihrem Tod ein kleiner Nachruf: «Deine Reise war kurz, aber dein Leben war voll von Liebe, Sinn und Bedeutung und hat uns alle geprägt, was wir jetzt bei deiner Abwesenheit erfahren.»

287 Tage lang hat das kleine Mädchen gelebt. Die Ärztinnen und Ärzte hatten ihr nur wenige Stunden gegeben. Sie überlebte den ersten Tag, dann den zweiten Tag, den ersten Monat, den zweiten Monat. Stets wurden die Eltern darauf vorbereitet, dass sie wohl nicht den Sommer, den Herbst, den Advent, dann Weihnachten erleben würde. Leonie schwebte immer wieder zwischen Leben und Tod. Jeder Tag konnte der letzte sein. Dass sie dann mehr als neun Monate gelebt hat, war schlicht ein kleines Wunder. Eine junge Pflegende in der Ausbildung sagte mir dann danach: «Leonie zu halten, war für mich etwas ganz Besonderes: Sie atmete so flach und ein wenig mühsam, machte kleine Bewegungen, zeigte sich zerbrechlich und doch so stark, geradezu kämpferisch in ihrem Lebenswillen, voller Vertrauen und bedingungsloser Hingabe.» Sie hatte das Empfinden, an etwas Grossartigem teilzuhaben, etwas in sich Bedeutungsvolles zu tun, etwas zu machen, dass keine grossen Erklärungen und Begründungen verlangte: Leonie zu halten. 

Und so gesehen sei nicht mehr klar: Wer hält hier wen?

*Name geändert

Isabella Skuljan, Seelsorgerin im Inselspital

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