Multiethnische und multireligiöse Schulklasse als Bereicherung und Herausforderung. Foto: Laif/Gordon Welters
Wer heute die Augen schliesst, wird morgen grosse Augen machen
Der renommiertere Religionspädagoge Albert Biesinger fordert einen verstärkten Religionsunterricht angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen
Religion wird in diesem Jahrhundert zu einem Megathema in vielen europäischen Gesellschaften. Die Migrationsentwicklung bringt Herausforderungen für eine mehrdimensionale Integration in die Gesellschaft. Warum es ohne religiöse Bildung gar nicht mehr geht.
Von Albert Biesinger*
Sprachkompetenz oder die Integration in das Wertesystem wird allgemein als wichtig diskutiert. Dass aber er tieferliegend noch ganz andere Probleme brodeln, wird weitgehend verkannt. Es ist grob fahrlässig, religiöse Bildung als niedlich abzustempeln so etwa: das sind eben die Frommen, die man in einer Nische gewähren lässt. Vielmehr geht es ums Ganze: Es wird zu einer gesellschaftlichen Herausforderung, ob es langfristig zu Religionsfrieden kommt oder ob auch bei uns die Moscheen brennen, Kirchen brennen oder Synagogen brennen.
Kinder sind da bereits weiter: In einem Gruppeninterview mit sechsjährigen Kindergartenkindern kam es zu folgendem Dialog: In Berlin, da heisst der Gott Jesus, in Thailand, da heisst der Gott Buddha und in Arabien, da heisst der Gott Allah.
Das Kind sagt: «Meine Mama sagt aber, Gott gibt es ja gar nicht.» Ein anderes Kind: «Mein Papa betet fünfmal am Tag und verneigt sich auf dem Boden.»
Judith (Name geändert), ein christliches Kind, kommt aus der Schule und sagt zu seiner Mama: «Ich nehme morgen kein Wurstbrot mehr mit. Wer Wurstbrot isst, kommt in die Hölle.»
Was gewinnen Kinder durch religiöse Bildung
Es reicht nicht aus, nur das Christentum zu verstehen. Religiöse Bildung meint immer mehr, auch interreligiöse Bildung – etwa mit gleichaltrigen muslimischen Kindern und Jugendlichen oder mit Kindern und Jugendlichen, die gar nicht an Gott glauben, in einen Verständigungsprozess zu kommen. Dieser soll zum einen für die eigene Persönlichkeitsentwicklung hilfreich sein, zum anderen aber auch die gesellschaftlichen Gräben, die sich auftun können oder schon bereits aufgetan haben, nicht noch grösser werden zu lassen, sondern vielmehr, sie Schritt für Schritt (wieder) zu überbrücken.
Meine eigenen Erfahrungen als Religionslehrer haben mich alarmiert: In einer Religionsstunde zum Themenprofil «Wie unser Leben gelingt: Zehn Gebote» sagt plötzlich ein muslimischer Schüler ganz heftig zu einem agnostischen Schüler: «Was, du glaubst nicht an Gott – an Gott muss man glauben!» Später ein anderer Schüler zu einer Mitschülerin: «Das ist aber Sünde, was du gerade sagst. Weisst du, dass das Sünde ist!»
Menschen, die vor den sich anbahnenden interreligiösen Herausforderungen die Augen verschliessen, werden morgen grosse Augen machen. Es wird dann religiöse Subkulturen und Fundamentalismen auf verschiedenen Ebenen geben. Und auch die Gesellschaft –insbesondere auch die Wirtschaft – wird keine Freude haben, wenn sich religiöse Konflikte und Vorurteile am Arbeitsplatz austoben. Wenn es zu interreligiösen Konflikten auf der Strasse kommt, wird man auch an der Börse grosse Augen machen.
Ich warne vor der Verniedlichung religiöser Bildung in manchen gesellschaftlichen Gruppen. Die Lage ist ernster, als manche denken. Es ist geradezu die Pflicht des Staates, religiöse Bildung ernster zu nehmen und nicht die Zeichen der Zeit zu verschlafen. Die Religionspädagogik macht sich zu Recht Gedanken darüber, welche Kompetenzen denn Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht erwerben können. Und was ihnen fehlt – positiv formuliert: Was gewinnen Kinder und Jugendliche durch religiöse Bildung?
• Sie gewinnen einen weiten Horizont über die Herkunft ihrer Herkunft – Evolution, Urknall, alles richtig – aber was war die Bedingung des Urknalls für die Weltentstehung? Gott, oder nicht Gott?
• Kinder und Jugendliche gewinnen durch religiöse Bildung einen weiten Horizont angesichts der Frage: «Warum kommt man überhaupt auf die Welt, wenn man am Schluss eh wieder sterben muss?» So ein 13-jähriger Junge nach dem Tod seines Grossvaters.
• Kinder und Jugendliche gewinnen einen weiten Horizont zur Frage: «Bin ich mehr als mein Körper? Wenn mein Körper eines Tages tot ist, bin ich dann auch noch? Und wie soll das gehen. Wie soll ich mir das vorstellen?»
• Kinder und Jugendliche gewinnen die grosse Verheissung: Die Botschaft von der Auferweckung Jesu Christi macht den Tod zum Tor zum neuen Leben.
Bedeutungen
Kinder und Jugendliche sind empfänglich für religiöse Denkhorizonte, und sie wollen Antworten auf ihre Fragen, die allerdings lebensrelevant erschlossen werden müssen. Alleinbiblische Geschichten zu erklären, reicht nicht aus. Es geht vielmehr um die Frage: Welche Relevanz hat diese biblische Geschichte alltagstauglich für meine eigene Psyche, für meine eigene Lebenssituation?
Ein Beispiel aus der von mir und meiner Enkelin verfassten «Meine Kinderbibel für Sonnenschein und Regentage». Die biblischen Geschichten werden immer in Zusammenhang gesetzt mit Alltagssituationen von Kindern: Wenn Kinder mit ihren Geschwistern streiten: dann lese ich die Geschichte, wie Josef von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft wird. (vgl. Gen. 37.)
Für manche Eltern stellt sich die Frage: Hilfe, mein Kind ist fromm. Was mach ich jetzt nur? Für andere Eltern stellt sich die Frage: wenn ich doch selber nicht an Gott glaube, warum soll ich dann mein Kind religiös erziehen? Eine zentrale Argumentation im Gespräch mit ihnen: Aber auch Kinder von säkularen Eltern leben in diesem Jahrhundert immer mehr in einer Gesellschaft, in der sie grosse inter-religiöse Herausforderungen zu bestehen haben. Ich kann aufgrund von jahrelanger Forschung, die immer auch evangelisch-katholisch strukturiert war, Eltern, Lehrerinnen und Lehrern nur deutlich dazu raten, die religiöse Bildung mit Kindern auf hohem Niveau ernst, sehr, sehr ernst zu nehmen.
Affe tot, Klappe zu, ich spüre nichts mehr
«Wie ich mir das Leben nach dem Tod vorstelle» – so meine Themensetzung in der ersten Religionsstunde nach Ostern. Die 16-jährigen Schüler*innen schreiben fünf Minuten in Einzelarbeit ihre Ideen auf und tauschen sich anschliessend in Arbeitsgruppen aus.
Plötzlich weint eine Schülerin. Ich setze mich zu ihr: «Mein Papa ist vor vier Wochen plötzlich gestorben. Wissen sie, wo mein Papa jetzt ist?» Ich höre intensiv zu und antworte so, wie ich es selber glaube: «Wir Menschen sind mehr als unser Körper, der irgendwann nicht mehr ‹tut›, der sterblich ist. Aber alles, was geistig ist an uns, kann gar nicht sterben. Ihr Papa lebt jetzt für immer bei Gott geistig weiter. Und er ist Ihnen ganz nahe, vielleicht jetzt noch näher als früher. Reden Sie mit ihm, als ob er da wäre, und lassen Sie ihn jeden Tag in Ihrer Nähe sein. Er ist jetzt ein Engel für Sie, der Sie begleitet.»
Ein anderer Schüler sagte mir kurz vor der Matura: «Herr Biesinger, warum machen sie sich immer so viele Gedanken über das Leben nach dem Tod. Affe tot, Klappe zu. Ich spüre nichts mehr.» Ich dagegen: «Erstens bin ich kein Affe, und so bescheiden wie Sie bin ich halt nicht. Da fange ich erst recht an, weiterzudenken. Ich kann als Mensch über die Grenze des Todes hinaus weitersuchen. Ich bin mehr als mein Körper. Vielleicht ist alles anders, aber das gilt auch für Sie, nämlich dass Gott Sie retten wird in ein neues Leben hinein.»
Eine Gesellschaft, die religiöse Bildung aus der öffentlichen Schule ausklammern würde, würde sich langfristig selbst gefährden. Es geht nicht um ein «Privileg», dass die Kirchen ihren Religionsunterricht für christliche Kinder und Jugendliche erteilen dürfen und diesen Religionsunterricht auch auf dem neuesten didaktischen Stand der Kompetenzorientierung entsprechend weiterentwickeln, es geht vielmehr darum, das Christentum so zu lernen, dass die Kinder und Jugendlichen für den interreligiösen Dialog Schritt für Schritt vorbereitet werden.
*Albert Biesinger (70) ist katholischer Theologe und emeritierter Professor für Religionspädagogik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Er ist Buchautor und Vortragsreisender, hat vier Kinder und sechs Enkelkinder.
Filmtipp: Kleine Kinder, grosse Fragen – dies ist der Titel einer Filmreihe, die im September 2018 Premiere hat. Die Filme sind frei zugänglich über die Stiftung Gottesbeziehung in Familien: www.stigofam.de
Diese Filme sind auch für die Begleitung von Eltern im Blick auf den Erwerb religiöser Elternkompetenz bei den Fragen «Was ist, wenn Oma stirbt?», «Kann ich Gott sehen?», «Gibt es mehr als einen Gott?», «Wie ist das mit dem Kreuz?», «Lieber Gott, hörst du mich?»
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Lesen Sie auch:
Interview zum Thema mit der Leiterin der Fachstelle Religionspädagogik Judith Furrer
Anmerkung: In der Geschichte des Kantons Bern hat die Trennung von kirchlich-konfessionellem Religionsunterricht und staatlicher Schule eine lange Tradition. So nahm die Gesetzgebung, welche beeinflusste, dass der konfessionelle Religionsunterricht in der Verantwortung der jeweiligen Kirche liegt, schon weit vor dem Schulorganisationsgesetz von 1856 ihren Anfang. Seitdem wurde immer klarer: Bekenntnisorientierte religiöse Bildung passiert im Kanton Bern nicht an der öffentlichen Schule. Gleichwohl übernimmt der Staat eine Verantwortung für die religiöse und ethische Allgemeinbildung von allen Kindern und Jugendlichen im bekenntnisneutralen Religionsunterricht. Kirchlich- konfessioneller und bekenntnisneutraler Religionsunterricht leisten so beide gemeinsam einen wichtigen Beitrag an die religiöse Bildung von Kindern und Jugendlichen.
Die Geschichte des Religionsunterrichts im Kanton Bern wird in diesem Beitrag der Zeitschrift für Religionskunde Nr. 4/2017 vertieft bearbeitet, PDF zum Download
Red.