Multireligiöse Schweiz. Skulptur in Gerliswil LU. Foto: Keystone, Urs Flüeler

Wie christlich ist die Schweiz wirklich?

09.11.2016

Wie christlich ist die Schweiz wirklich? Verdanken wir alle unsere Werte und Errungenschaften wirklich dem Christentum?

Die gesetzliche Gleichstellung der Juden ist in der Schweiz 150 Jahre alt, doch erst in den letzten rund 50 Jahren wurden sie allmählich als Minderheit auf Augenhohe akzeptiert. In ihre Stapfen getreten sind die Muslime, wie ein Vergleich vom Schächt- zum Minarettverbot zeigt. Bemühungen um einen Dialog stehen erst am Anfang.

«Die Schweiz ist ein christliches Land», sagte der Zuger CVP-Nationalrat Gerhard Pfister am 3. Juni dieses Jahres und trat damit eine heftige Debatte los. Im Geschichtsunterricht hatte der Präsident der einzigen Partei mit einem«C» im Namen offenbar nicht aufgepasst. Jüdische Spuren führen hierzulande bis ins 12. Jahrhundert zurück. Ihm muss entgangen sein, dass Schweizer Juden dieses Jahr ihre Emanzipation vor 150 Jahren feiern. Nach einer kurzen Geschichtslektion und hitzigen Debatten dividierte er dann in der NZZ online vom 8. Oktober Judentum und Islam auseinander: «Der Islam gehört nicht zur Schweiz, das Judentum schon, weil wir christlich-jüdische Wurzeln haben.»

Von acht Millionen Einwohnern gehören heute 70 Prozent einer Kirche an, von denen wiederum ein Grossteil nie zur Kirche geht. Weitere 22 Prozent sind konfessionslos – eine Rate, die durch Kirchenaustritte weiterhin zunimmt. Die restlichen acht Prozent zählen zu einer nichtchristlichen Religionsgemeinschaft – Tendenz steigend. Die Politik und die Kirchen müssen sich also wohl oder übel mit ihrer Derodierung auseinandersetzen. Und dazu gehört auch die Frage, ob der Anspruch des Christentums als «Leitreligion» eine hochgradige Selbstüberschätzung ist. Europa ist nicht nur durch die christliche Religion geprägt. Der moderne Zusammenschluss von Staaten wäre ohne ein einheitliches Römisches Recht nicht möglich. Zentrale Werte basieren zudem auf der griechischen und lateinischen Kultur. All dies war erst dank einem Wissenstransfer durch das muslimische Spanien, das Osmanische Reich und die Juden möglich. Europa würde weder die lateinische Schrift noch das Dezimalsystemkennen, auch nicht den Kaffee und viele Gewürze. Kulturelle, ökonomische und militärische Bündnisse von christlichen und muslimischen Ländern waren durch alle Jahrhunderte fliessend.

Konkurrenz um Werte

Antisemitismus und Islamfeindlichkeit sind nicht zuletzt Ausdruck von Angst und Abwehr in diesem Konkurrenzkampf um Werte, allerdings aus unterschiedlichen Gründen: Juden waren als «Christusmörder» und Weltverschwörer verschrien, Muslime als bewaffnete Bedrohung.
Eine unsichtbare Schere existiert bis heute in den Köpfen. Kein muslimischer Balkanstaat wurde bisher in die EU aufgenommen. Dabei ist das christliche Europa und damit die Schweiz mehr denn je gefordert. Seit den 1970er Jahren lassen sich Zuwanderer aus Mazedonien, Montenegro, Albanien, dem Kosovo sowie der Türkei in der Schweiz nieder. Politisch und gesellschaftlich entschied sich die Schweiz meist für die Ausgrenzung der «Fremden». So geschehen 1893 und 2009: Dem Schächt- und dem Minarettverbot schlossen sich jeweils rund 60 Prozent an. Weitere «Fremde» wie Tamilen kamen in den 80er Jahren ins Land – alle Verschärfungen des Asylgesetzes erhielten auch von der einzigen Partei mit einem «C» Zustimmung.

Anerkennung der Juden und Förderung des Dialogs

Eine gesellschaftliche Anerkennung der Juden als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft setzte erst allmählich nach dem Krieg ein. Die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft (CJA) legte 1946 den ersten Stein zur Bekämpfung des Antisemitismus. Das Vatikanische Konzil anerkannte 1965 das Judentum als vollwertige Religion. Durch den Staat Israel verblasste das Bild des schwachen Juden, und für die Aufarbeitung der christlichen Mitschuld am Holocaust bemühten sich Gruppen um einen Versöhnungsprozess. Obschon ökumenische Bewegungen seit über 100 Jahren existieren, schlug sich dies erst in den letzten Jahrzehnten an der «Basis» nieder mit interkonfessionellen Trauungen, Organisationen oder Anlässen.

Diese Zusammenarbeit der Kirchen hat in den letzten 15 bis 20 Jahren auch zunehmend den interkulturellen und interreligiösen Dialog gestärkt. Ganz konkret: Zahlreiche Kirchgemeinden betreuen oder unterstützen Migrantinnen und Migranten – auch nichtchristliche – mit Mütterberatung, Spielnachmittagen, Deutschunterricht und Exkursionen. Auf dem Platz Bern sind gleich drei Institutionen sehr aktiv: Die katholische Kirche Region Bern und Umgebung hat die eigene Einrichtung «Kirche im Dialog». Sie ist im Vorstand und im Team der «Offenen Kirche» vertreten, die in der Heiliggeistkirche am Bahnhofplatz interreligiöse Veranstaltungen durchführt. Das «Haus der Religionen» am Europaplatz mit acht Religionsgemeinschaften wird von den Landeskirchen ebenfalls unterstützt. Zu den Höhepunkten in Bern gehört die «Nacht der Religionen» im November mit rund 20 beteiligten Gemeinschaften (siehe Kasten).

Produktive Auseinandersetzung statt Ausgrenzung

Solche Institutionen und Projekte sind wichtige Pfeiler gegen die Dämonisierung nicht christlicher Minderheiten. Mit differenzierten Debatten geben sie Gegensteuer zu den plakativen Feindbildern insbesondere des Islam. Kopftuch- und Minarettverbot sind die Spitze des Eisbergs. Eine reale Gefahr des Terrors vonseiten der islamistischen Gruppen besteht. Doch rechtfertigt die Gefahr von rund 70 registrierten Islamisten eine Kollektiv-Verurteilung von 400 000 friedlich lebenden Muslimen, darunter viele mit Schweizerpass und Militärpflicht? Wie lange wird es dauern, bis gewisse Traditionen, ethische Werte oder Bekleidungen so selbstverständlich sind wie kulturelle Unterschiede zwischen Stadt und Land, Links und Rechts, Romandie und Deutschschweiz, global und lokal? Was ist letztlich produktiver: die Ausgrenzung der «Fremden» oder eine kulturelle Auseinandersetzung um Werte, Erwartungen und Recht? Die Emanzipation der Schweizer Juden hat gezeigt, dass der zweite Weg der produktivere ist. Wie lange wird es dauern bis zur Einsicht, dass die Menschenrechte universal und nicht an eine Religion wie das Christentum gebunden sind? Wie Abstimmungen über Jahrzehnte hinweg zeigen, ist die Mehrheit der Stimmenden – einschliesslich der CVP – ausländerkritisch bis -feindlich. Für die Förderung des Dialogs gibt es noch viel zu tun. Auch die Kirchen sind gefordert.

Hannah Einhaus  

Lesen Sie weiter in unserem Dossier: 150 Jahre Gleichberechtigung der Schweizer Juden

Nacht der Religionen
Sie findet am 12.November in der Stadt Bern statt. Das diesjährige Motto lautet «Aufgleisen». Jeweils zwei und mehr Religionsgemeinschaften haben sich für ein Projekt zusammengetan. Der Auftakt um 18.00 findet im Tramdepot Burgernziel statt, weitere Anlässe werden danach an elf Orten und im Tram 7 durchgeführt. Den Schlusspunkt bildet traditionell die Offene Kirche am Bahnhofplatz, um 23.00 mit einer Stärkung für den Heimweg.
Informationen unter www.nacht-der-religionen.ch