Prof. Dr. Arnold Angenendt. Foto: KNA/Cristian Gennari

«Wie kann man da noch von Sünde sprechen»

03.02.2016

Die romantische Liebe als eine Erfindung des Christentums. Ein Gespräch mit dem Historiker Arnold Angenendt über Grausamkeiten der Geschlechtlichkeit, sexuelle Befriedigung und die Verbote der Kirche.

Arnold Angenendt ist ein Mann fürs Grundsätzliche. Der Münsteraner Kirchenhistoriker ist bekannt dafür, dass er bis ins Detail aufdröselt, warum, wieso und weshalb die Kirche so geworden ist, wie wir sie heute kennen. Dabei bringt er immer wieder unbequeme Wahrheiten ans Licht. Jetzt hat er sich das Verhältnis des Christentums zu Sexualität, Liebe und Ehe vorgeknöpft.

«pfarrblatt»: Sie beginnen Ihr Buch mit Berichten über historische Sex-Sklavinnen, Massen-Vergewaltigungen und andere Gräueltaten. Heute hört man so etwas von Boko Haram oder IS. Bei der Lektüre könnte man zu dem Schluss kommen, das wäre die weltgeschichtliche Normalität.
Arnold Angenendt: Wir denken seit der Romantik bei Ehe und Partnerschaft an Erotik und an ein Gefallen-aneinander-Haben. Dieses Bild muss man als Selbstverständlichkeit infrage stellen oder wenigstens einschränken. Geschlechtlichkeit ist mit so vielen Grausamkeiten verbunden gewesen, wie wir uns das gar nicht mehr vorstellen können. Jahrhundertelang wurden den Mädchen in China die Füsse verstümmelt. Wir sollten uns die Neuartigkeit unserer Ehevorstellung bewusst halten.

Sie schildern auch das ganz normale Frauenleben früherer Zeiten als Zumutung. Mädchen wurden mit dem Einsetzen der Geschlechtsreife verheiratet, bekamen Kind um Kind und starben früh an Auszehrung.
Die Sexualität benachteiligt die Frau in erschreckender Weise. Während der Mann sein Leben im Beruf, bei der Jagd oder im Krieg verlieren kann, riskiert die Frau ihr Leben bei jedem Sexualakt. Wenn sie schwanger wird, kann sie im Kindbett sterben. Ausserdem ist die Frau die physisch Schwächere. Über Jahrtausende musste sich eine Frau in den Schutz eines Mannes begeben, der sie behütete, um nicht vergewaltigt und missbraucht zu werden. Die Frau konnte gar nicht zur Selbstentfaltung und zu irgendeiner Ausbildung gelangen. Erst seit wir moderne Systeme der Sicherheit und der Medizin haben, können Frauen eine einigermassen eigenständige Rolle einnehmen. Noch dazu galt: Wenn eine Frau begrapscht oder missbraucht worden war, galt sie als ehrlos. Sie war vogelfrei und damit ohne Rechte. Was an Silvester auf der Kölner Domplatte passiert ist, entspricht genau dieser perfiden Logik: Männer umringen eine Frau, betatschen sie, reissen ihr den Slip weg – dann ist die Frau in den Augen der Täter ehrlos, und man kann mit ihr machen, was man will.

Sie sagen, das Christentum habe wesentlich dazu beigetragen, aus solchen grausamen Mann-Frau-Verhältnissen eine gleichberechtigte Partnerschaft zu machen.
Im biblischen Schöpfungsbericht heisst es, Mann und Frau seien beide nach Gottes Ebenbild geschaffen. Das ist eine singuläre Aussage in der ganzen vorderorientalischen Religionswelt. Diese Gleichheit hat zwar im Alten Testament kaum die Ehe verändert. Jesus aber hat die Gottesebenbildlichkeit neu hervorgekehrt. Im frühen Christentum wird die Ehe zugunsten der Frau stabilisiert, sie kann nicht mehr aus jedem Grund aus der Ehe entlassen werden, sie hat ein Recht auf Gemeinsamkeit. Das Christentum hat ausserdem einen Satz übernommen, der zuvor in der Stoa formuliert worden war: «Der Konsens macht die Ehe.» Man kann also Frauen nicht mehr gegen ihren Willen verheiraten. Das ist die grosse Revolution, die das Christentum im Laufe der Jahrhunderte durchgesetzt hat.

Und das ist eine exklusiv christliche Errungenschaft?
In Japan zum Beispiel werden heute noch über ein Drittel der Ehen arrangiert. Es gibt dafür Verhandlungen, bei denen die zu Verheiratenden mit niedergeschlagenen Augen interviewt werden. Danach dürfen sie bei Starbucks zusammen einen Kaffee trinken, mehr nicht. Im heutigen Indien ist die Hälfte der 15-jährigen Mädchen arrangiert verheiratet. Laut Unesco sollen in der heutigen Welt 700 Millionen Frauen arrangiert verheiratet sein.

Trotz der Konsens-Forderung hat die Gleichstellung von Mann und Frau auch im christlichen Abendland ziemlich lange auf sich warten lassen.
Am Übergang von der Antike zum Mittelalter, den wir uns als gewaltigen Kulturbruch vorstellen müssen, änderte sich auch die Ehe. Jetzt machte nicht mehr der Konsens die Ehe, sondern die erste Brautnacht. Die Hochzeitsgäste standen um das Bett und sahen zu, wie der erste Koitus vollzogen wurde. Danach musste das Bettlaken mit dem Blutfleck vorgezeigt werden. Denn die Frau musste sexuell unberührt sein. Der meist ein Jahrzehnt ältere Mann durfte zuvor ins Bordell gehen.

Es galten also doch wieder die alten, archaischen Regeln und Ehrbegriffe, trotz dem Christentum.
Man muss bedenken, dass sich tiefgreifende Umstellungsprozesse nur sehr langsam durchsetzen. Im Sachsenland sollen in karolingischer Zeit fünf oder sechs Einwohner pro Quadratkilometer gelebt haben. Wie will man da eine Schule aufbauen und die Menschen umerziehen? Dass für die Ehe der Konsens gefordert wird, taucht erst wieder im 12. Jahrhundert auf. Liebesheiraten gibt es ab dem 15. Jahrhundert; dafür mussten die jungen Leute allerdings oft eine Enterbung in Kauf nehmen. Vor einigen Jahren hat man in Rom das Archiv der Poenitentiarie geöffnet, für das bis dahin das Beichtgeheimnis gegolten hatte. Man fand darin 6000 Schreiben aus dem deutschsprachigen Raum des 15. Jahrhunderts: Bittstellen von Frauen, die eine freie Ehe einklagen. Hochinteressant ist dabei, dass Frauen auch ihre sexuelle Befriedigung einklagten.

So etwas durfte es mit dem Segen der Kirche geben?
Belege für sexuelle Befriedigung waren selbstverständlich. Papst Johannes XXI., der zuvor Arzt war, sagte am Ende des 13. Jahrhunderts, in der Ehe werde gestreichelt, gekitzelt und geküsst. Den Orgasmus bezeichnete er als das Nobilissimum Opus der Ehe, als ihre edelste Hervorbringung.

Ist für die Kirche die Sexualität nicht allein zur Fortpflanzung da?
Die Leibfeindlichkeit der Kirche haben wir dem heiligen Augustinus zu verdanken. Er selbst lebte zwar sexuell recht entspannt, doch in seinen Schriften hat er die Lust mit der Erbsünde verbunden. Weiter die Tatsache, dass jeder Verstoss gegen das Sechste Gebot als Todsünde gewertet wurde, ist unchristlicher Rigorismus. Überdies ist nach heutiger Erkenntnis die Verurteilung der Onanie das Resultat einer Fehldeutung des Korintherbriefs. Fünfhundert Jahre lang hat man junge Männer damit in den Beichtstühlen gequält. Die Auswirkungen reichen bis in die Gegenwart. Viele Geistliche haben in ihrem Entsetzen über die ihnen dozierte Sexualmoral einfach aufgehört, über Sexualität zu sprechen. Verrückterweise wurde in der Aufklärung die Onanie zum medizinischen Menetekel, dass nämlich Selbstbefriedigung Rückenmarkserweichung und Verstandesschwäche auslösen sollte – das haben alle Grosskonfessionen mitgemacht, mehr aber noch die Medizin. Da gab es Leute, die ihre Vorhaut mit einem Ring durchzogen haben, um nicht zu onanieren.

Sie schreiben, dass die Ablehnung von Verhütung oder Homosexualität heute nicht mehr nachvollziehbar sei ...
Platon dachte, der Same enthalte eine Art Homunkulus, und der müsse in die Furche der Frau eingegossen werden. Diese Vorstellung übernahm Thomas von Aquin: Wer das verhindere, handle gegen die Natur und begehe eine Art Mord. Deshalb wurden unterbrochener Geschlechtsverkehr, Onanie und Homosexualität verboten. Doch heute wissen wir, dass wir es nicht mit einem Homunkulus zu tun haben, vielmehr enthält jeder Samenerguss Millionen Zellen, die die Natur selbst vergeudet. Also ist die ganze alte Argumentation der Samenvergeudung hinfällig. Die Homosexualität wird im Neuen Testament hochgradig verurteilt. Heute gilt sie als Veranlagung. Wie kann man da noch von Sünde sprechen?

Kommen wir zurück zur romantischen Liebe.
Die romantische Liebe als Idealvorstellung ist heute unumstösslich – auch wenn eine Verwirklichung dieses Ideals oft genug scheitert. Die meisten Menschen wünschen sich eine erfüllte Partnerschaft. In den massgeblichen Jugendstudien stehen die Werte der romantischen Liebe obenan, noch vor der Selbstverwirklichung.

Zugleich gibt es weiterhin Grausamkeiten gegen Mädchen und Frauen. Pränatale Diagnostik sorgt dafür, dass in Asien Tausende ungeborene Mädchen abgetrieben werden. Die Globalisierung ermöglicht grenzenlosen Sex-Tourismus. Ihr düsteres Bild aus der Vergangenheit setzt sich fort.
Dennoch halte ich daran fest, dass sich durch die romantische Ehe etwas Wesentliches verändert hat. Mädchen und Jungen werden gleich erzogen, sie haben den gleichen Zugang zur Bildung. Das ermöglicht eine neue Art von partnerschaftlichem Austausch. Der Sozialhistoriker Michael Mitterauer nennt in seinem Buch «Warum Europa?» die partnerschaftliche Ehe eine europäisch-christliche Besonderheit. Sie wird zum Exportschlager der westlichen Welt, das wird nicht ohne Folgen bleiben.

Interview: Andreas Fasel, Welt am Sonntag, mit freundlicher Genehmigung

 

Zur Person
Arnold Angenendt ist 1934 in Goch am Niederrhein geboren, er studierte katholische Theologie und Geschichte in Münster und wurde 1963 zum Priester geweiht. 1981 wurde er Professor an der Universität Münster. In seinen Forschungen über die Religiosität im Mittelalter fragte er vor allem nach der Mentalität der Christen anstatt sich mit dem Agieren der Kirche zu begnügen. Dadurch stiess er einen Wandel im Metier der Kirchengeschichte an. Grosse Beachtung fand sein Buch «Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert.»
Sein aktuelles Buch: Arnold Angenendt: Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum. Von den Anfängen bis heute. Aschendorff Verlag, Münster 2015, 324 Seiten, Fr. 31.90, eBook Fr. 14.90.