Weiterreise in die Schweiz? Das Dublin-System führt zu Verzweiflung und Stress. Flüchtlinge erhalten von einer Tessiner Hilfsorganisation am Bahnhof im italienischen Como eine Mahlzeit. / Foto: Keystone, Francesca Agosta
Wie (miss-)mutig humanitär ist die Schweiz?
Irene Neubauer ist katholische Seelsorgerin in diversen Berner Asylzentren
Seit gut vier Jahren arbeitet Irene Neubauer als katholische Seelsorgerin in diversen Berner Asylzentren. Im Hinblick auf die Schweizer Flüchtlingstage vom 17. und 18. Juni zeigt sie, wie sie die Situation von Asylsuchenden miterlebt.
von Irene Neubauer
Meine Sternstunden im Bundesasylzentrum Kappelen bei Lyss: vor dem Christbaum tanzende Jugendliche aus Afghanistan, ein feines Zvieri und Süssigkeiten für die Kinder zu Nouruz, dem Neujahrsfest im persisch-kurdischen Raum, oder der zu Ostern und Ramadan ganz mit selbst gestalteten Dekorationen und Segenswünschen geschmückte Essraum.
Es ist berührend, wie sich alle ins Zeug legen, um auch Asylsuchenden festliche Momente zu ermöglichen: vom Betreuungsteam über die Küchencrew bis hin zu den Freiwilligen aus der katholischen Kirchgemeinde, die Weihnachtspäckli für die Kinder brachten. Für mich ist es eine Freude, zum Beispiel mit schönen Tischsets und Servietten auch etwas zum Fest beizutragen.
Diese Feiern ermöglichen Verbundenheit und stiften wertvollen sozialen Kitt. Für mich sind sie auch ein Vorgeschmack dafür, was ich mir für die ganze Schweiz wünsche: Dass es selbstverständlich wird, sich in Schulen, Nachbarschaften, Gemeinden, Pfarreien, Moscheen und Tempeln gegenseitig zu den jeweiligen Festen einzuladen. Diese zeigen auch, dass ein Asylzentrum neben all dem Schweren auch ein Ort sein kann, wo gute Praktiken des Zusammenlebens in einer multireligiösen und -kulturellen Gesellschaft erprobt und eingeübt werden können.
Vom Umgang mit UMAs
Eine Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht – jesuanisch gesagt: «Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan.» In der Schweiz gibt es immer mehr unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMAs). Schon in ihren Heimatländern mit schwierigsten Situationen konfrontiert, machen viele auf ihrer monate- bis jahrelangen Flucht oft weitere traumatische Erfahrungen.
Die Begleitung und Betreuung dieser vulnerablen Jugendlichen ist ein Gradmesser für unsere Humanität. Dabei hat die Schweiz noch viel Luft nach oben. Das zeigt sich unter anderem daran, dass das Land auch mit zweifelhaften Methoden versucht, möglichst viele Jugendliche für volljährig zu erklären. So stehen diese nicht mehr unter besonderem Schutz, sondern dem normalen Asylprozess, und können wieder in ihr erstes Einreiseland im Schengenraum zurückgewiesen werden. Damit sind wir beim Thema «Dublin-Verfahren», einem der grössten Stressfaktoren für die Asylsuchenden und damit auch für mich als Seelsorgerin.
Stressfaktor «Dublin-Verfahren»
Damit sind wir beim Thema «Dublin-Verfahren», einem der grössten Stressfaktoren für die Asylsuchenden und damit auch für mich als Seelsorgerin. Gemäss Dublin-Abkommen ist der erste Staat im Schengen-Raum, in den Geflüchtete gelangen, für ihr Asylverfahren zuständig. Wenn Asylsuchende es unter oft unbeschreiblichen Mühen in die Schweiz geschafft haben und dann erfahren, dass sie etwa wieder zurück nach Kroatien oder Bulgarien sollen, dann weicht ihre Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit und Würde oft der nackten Verzweiflung. Ich denke dabei an eine afghanische Mutter, die von kroatischen Grenzbeamten so heftig zu Boden gestossen wurde, dass das Baby auf ihrem Arm einen riesigen Bluterguss auf der Schädeldecke erlitt. Oder an A. aus dem Kongo, die in Kroatien vergeblich um ein bisschen Milch für ihre kleine Tochter bat.
Als Seelsorgerin bleibt mir angesichts dieser Härte oft nur, diese Ohnmacht an der Seite von Geflüchteten mit auszuhalten. Und die Hoffnung, dass sich auch die Kirchen mutig für eine humane Asylpolitik einsetzen.
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