Das Kloster Notre-Dame de Géronde der Zisterzienserinnen in Siders mit der mittelalterlichen Klosterkirche: Ort der Einkehr und des guten Weins. Foto: Wikimedia Commons, Albins

Wie mystisch ist der Walliser Weisswein?

14.10.2015

Bei einem Ausflug ins Wallis entschied sich mein Gastgeber spontan, seinen Weinkeller aufzufüllen. In Siders habe er eine besondere und geheimnisvolle Quelle. Überrascht stellte ich fest, dass die Fahrt des keineswegs religiösen Freundes bei einemKloster endete.

An der Pforte reichte eine kaum sichtbare Schwester die Weinkisten durch ein kleines Guichet. Ich kaufte ebenfalls ein paar Flaschen des klösterlichen Johannisberg-Weines. Wir waren bei den Bernhardinerinnen im Kloster unserer lieben Frau von Géronde gelandet, einem Zweig des Ordens der Zisterzienserinnen. Sie leben zurückgezogen in einem der ältesten Orte des christlichen Gottesdienstes im Wallis. Überreste einer Kirche stammen aus dem sechsten Jahrhundert, der älteste Teil der Klostergebäude aus dem elften Jahrhundert. In den Weinbergen produzieren sie köstliche Klosterweine, weisse und rote. Mit Gästezimmern laden sie zur Einkehr.
Nun waren aus der Kirche gregorianische Gesänge zu hören. Im Chor stand eine Gruppe Nonnen und sang die altertümlichen Melodi- en, die in der Kirche nachhallten. Ergriffen von den Klängen schien es mir, als würden hier Geschichte und Gebete von Jahrhunderten als Musik erklingen. Erstaunlich, dass die Gesänge einen sofort umfangen und andächtig werden lassen. Da riss mich mein Begleiter aus dem besinnlichen Moment, indem er meinte: «Unglaublich dieses Gestöhne, seit Jahrhunderten lassen sich Menschen hier von der Religion ihr Denken und ihre Sexualität unterdrücken und bleiben gefangen in völlig veralteten Ritualen und Kleidern!»
Ich muss völlig perplex geguckt haben, konnte nichts sagen und der Kollege verliess die Kirche.

Noch heute, Jahre nach diesem Erlebnis, holt mich die Zerrissenheit dieses Moments immer wieder ein. Kann eine solch mystische Atmosphäre voller Weisheit und Andacht wirklich auch Menschen unterdrücken? Als ich kürzlich in einem andern Klosterladen auf den Wein der Bernhardinerinnen stiess, kaufte ich einen köstlichen Johannisberg, genehmigte mir zu Hause einen Schluck und nahm mir vor, wieder mal nach Siders zu reisen, um einem Stundengebet zu lauschen.