Aktuell tagt die Herbstsession 2024. Debattiert wird auch über die Kirche. Foto: Annalena Müller
Wieviel Staat braucht die Kirche?
Schafft es die Kirche aus eigener Kraft, ihre Missbrauchsprobleme in den Griff zu bekommen? Nein, finden sechs Motionen und fordern staatliche Kontrolle. Am Mittwoch debattiert der Nationalrat.
Annalena Müller
In den letzten Jahren sind Missbrauchsfälle im kirchlichen Umfeld und im Spitzensport in die Aufmerksamkeit der Schweizer Öffentlichkeit gerückt. Und damit auch die Frage, ob der Staat mehr Verantwortung übernehmen muss. In der Herbstsession nimmt sich der Nationalrat der Frage an.
Sechs Motionen rufen nach dem Staat
Am Mittwoch diskutiert das Parlament sechs Motionen, die national verbindliche Massnahmen für Institutionen fordern, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten – also auch die Kirchen. Alle Parteien ausser der SVP haben entsprechende Anträge eingereicht.
Gegenüber SRF begründete Nationalrätin Tamara Funiciello (SP/BE) die Notwendigkeit staatlicher Kontrolle: «Die Motion ist zielführend, weil sie verbindliche und standardisierte Massnahmen einführen will, die verhindern sollen, dass Kinder Gewalt erleben und dass, wenn sie Gewalt erleben, klar ist, wie man damit umgehen muss».
Bundesrat und SVP lehnen ab
Als einzige Partei stellt sich die SVP dagegen. Barbara Steinmann (SVP/ZH) hält die Motion für unnötig, da das Problem vorwiegend bei der katholischen Kirche liege, so Steinmann in der «Tagesschau» vom Sonntagabend.
Der Bundesrat selbst lehnt die Motionen ebenfalls ab – und begründet dies unter anderem mit der Zuständigkeit der Kantone für die Kirchen. Im Gegenzug unterstützt er ein Postulat, das ihn verpflichtet zu prüfen, «inwiefern Organisationen mit einem Auftrag in der Betreuung von vulnerablen Personen (…) vergangene interne Fälle von sexuellem Missbrauch aufarbeiten und die zuständigen Strafbehörden einschalten sowie welche Massnahmen getroffen wurden, um künftige Missbrauchsfälle zu verhindern.» Ferner soll die Regierung ermitteln, «ob gesetzgeberischer Handlungsbedarf zur Verbesserung der Verhältnisse besteht und welche Handlungsoptionen zu diesem Zweck zur Verfügung stehen.»
Beispiel Deutschland
Gerade bei diesem Thema würde sich ein Blick zum nördlichen Nachbarn anbieten. Wie in der Schweiz sind Kirchen und Schulen dort Sache der Länder und nicht des Bundes. Dennoch gibt es seit 2010 eine Behörde auf Bundesebene, für den Kampf gegen Missbrauch von Minderjährigen – nota bene nicht nur in der Kirche. Das «pfarrblatt» berichtete in der aktuellen Ausgabe ausführlich.
Ob eine solche Behörde auch in der Schweiz sinnvoll wäre, lassen Vertreter der Kirchen auf Anfrage des «pfarrblatt» offen. Stephan Jütte, Leiter Kommunikation EKS schreibt: «Grundsätzlich ist es sicher sinnvoll, dieses wichtige und vielschichtige Thema koordiniert und auch mit einem nationalen Fokus anzugehen. Ob dafür ein Amt auf Bundesebene ein geeignetes Mittel ist, können wir nicht abschätzen.»
Urs Brosi, Generalsekretär der RKZ äussert sich ähnlich: «Eine aktivere Rolle des Bundes wäre zu begrüssen, da die Zahl sexueller Gewalttaten und die Mehrdimensionalität des Problems eine breite Sensibilisierung, Koordination und die Hartnäckigkeit der Staatsgewalt brauchen.»
Kirchen zeigen sich offen für mehr Staat
Prinzipiell zeigen sich sowohl die katholische als auch die reformierten Kirchen offen für mehr Staat in der Frage der Prävention. Jütte begrüsst dabei ausdrücklich, dass «nicht nur Kirchen, sondern alle Organisationen, die mit Menschen in Seelsorgebeziehungen oder vulnerablen Personen arbeiten, überprüft werden sollen.» Zusätzlich wäre es sinnvoll, dass «auch staatliche Organisationen, wie Schulen und Gesundheitswesen» berücksichtigt werden.
Brosi sieht dem vom Bundesrat unterstützten Prüfauftrag ebenfalls positiv entgegen. Denn der Staat soll in der Prävention von sexualisierter Gewalt eine Aufsichtspflicht wahrnehmen und Rechenschaft einfordern. Der Bericht sei für die katholische Kirche zudem eine Möglichkeit, um die verschiedenen Bemühungen auf Ebene der Landeskirchen, Bistümer und auf nationaler Ebene aufzuzeigen und Rückmeldung zu erhalten, so der RKZ-Generalsekretär gegenüber dem «pfarrblatt».
Bundeshauskenner:innen gehen davon aus, dass die Motionen angenommen werden. Aber auch damit würde der lange parlamentarische Weg erst beginnen. Die Diskussion am Mittwoch ist dabei nur der erste Schritt.
Lesen Sie mehr zum Thema Missbrauchsaufarbeitung und Staat: https://www.kathbern.ch/pfarrblatt/news-artikel/kampf-gegen-missbrauch-der-blick-zum-nachbarn