65 Freiwillige unterstützen Hilfesuchende Tag und Nacht bei der Berner Regionalstelle von Tel 143. Foto: Pia Neuenschwander
«Wir hören zu, begleiten und motivieren»
Zwei Mitarbeitende von Tel 143 erzählen von ihrem Engagement
Bei Tel 143 – Die Dargebotene Hand begleiten schweizweit rund 600 freiwillige Mitarbeitende Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Hemmy* und Wesley* erzählen von ihrem abwechslungsreichen und anspruchsvollen Engagement bei der Regionalstelle Bern.
Interview: Anouk Hiedl
«pfarrblatt»: Was gab für Sie den Anstoss, bei Tel 143 mitzuarbeiten?
Wesley: Ich habe bis heute ein sehr gutes Leben, bin gesund und zwäg. Ich habe mich gefragt, was ich tun kann, um etwas davon weiterzugeben. Nach dem Erstgespräch merkte ich – das ist eine sinnvolle Arbeit. Nach der Pensionierung habe ich es dann gewagt, hier anzufangen. Am Telefon stelle ich fest, dass viel Leid da ist. Das gilt es auszuhalten und eventuell eine andere Blickrichtung aufzuzeigen. Wir sind Zuhörer, Begleiterin und Motivierer, aber keine Therapeuten.
Hemmy: Belastbarkeit verpflichtet in unserer Gesellschaft dazu, Verantwortung zu übernehmen. Ich wollte mit meiner psychischen und physischen Gesundheit etwas «Gescheites» tun, das mich erfüllt. Menschliche Dissonanzen und andere Lebenswirklichkeiten interessieren mich, und auch mit meiner Schreibfreude bin ich fürs Beantworten von Chats und Mails an Tel 143 am richtigen Ort. Man muss genug Zeit aufwenden wollen, um die Arbeit hier zu machen. Jetzt hat das bei mir endlich Platz.
Wie haben Sie die ersten Anrufe erlebt, die Sie selbstständig begleitet haben?
Hemmy: Anfangs hat es mich enorm Mut gekostet, den Hörer abzunehmen und mich dem zu stellen, was auf mich zukommt. Heute finde ich genau das spannend – ich weiss nie, auf welche Stimmung, welches Thema ich treffe.
Wesley: Wir werden am Anfang gut ausgebildet und wissen, was kommen könnte. Dennoch war ich am Anfang sehr erwartungsvoll – was kommt auf mich zu? Das ist auch heute noch so, diese Überraschung, dieses «Sensatiönchen», worauf ich treffe, wenn ich abnehme.
Welcher Anruf bleibt Ihnen unvergessen?
Hemmy: Vor drei Jahren meldete sich eine Jugendliche. Sie erzählte von ihrer grossen, aber ausweglosen Liebe, da die beiden Jungen verschiedenen Freikirchen angehörten. Dieser Schmerz, diese riesige Tragik, die mir damals entgegenkam, sitzt mir noch heute in den Knochen.
Wesley: Jemand rief an, um sich zu verabschieden. Er sagte, er stehe auf einem Stuhl mit einem Strick um den Hals und werde sich danach das Leben nehmen. Ich fragte ihn, ob er fürs Gespräch vom Stuhl steigen könne, da mich das beim Zuhören sehr belaste. Er sagte «Klar!» und legte auf. Ich konnte nicht zurückrufen, da wir von unseren Anrufenden keine Nummern sehen. Eine Stunde später rief er wieder an – er hatte das Telefon beim Runtersteigen irrtümlich aufgelegt. Es entwickelte sich ein gutes Gespräch, und wir machten ab, dass er sich tags darauf wieder bei Tel 143 melden würde.
Hemmy: In unserer vorgängigen Ausbildung lernen wir, Suizid zum Thema zu machen und uns auch nicht zu scheuen, nach den entsprechenden Plänen zu fragen. In solchen Gesprächen bin ich Anwältin jenes Teils dieser Menschen, der leben will. Diesen suche und erspüre ich und versuche, ihn zu stärken.
Wesley: Das ist immer eine Gratwanderung. Wir reden einen Suizidwunsch nicht aus, sondern erspüren und fragen nach, warum die Menschen noch da sind.
Ordnen Sie Ihre Gespräche eher seelsorgerisch oder psychologisch ein?
Hemmy: Seelsorge ist für mich religiös konnotiert. Bei Tel 143 sind wir religiös neutral. Und doch, wir sorgen uns um die Seele und kümmern uns um seelische Notfälle. Für unsere Arbeit gibt es keinen punktgenauen Ausdruck.
Wesley: Psychologische Gespräche wiederum sind klinisch und mit Diagnosen oder Krankenkassen konnotiert – das sind wir bei Tel 143 auch nicht.
Was, wenn ein Gespräch nicht gelingt?
Hemmy: Wenn keine Verbindung zustande kommt und man aneinander vorbeigeredet hat, haben wir einen vertraulichen internen Fachaustausch, oder wir sprechen mit Franziska Nydegger, unserer Regionalstellen-Leiterin, oder mit dem Verantwortlichen für unsere Ausbildung. Gemeinsam suchen wir, wo der Faden entglitten ist. Das hilft, das Gespräch einzuordnen.
Wesley: Wir wissen alle, dass es «das» richtige Gespräch nicht gibt. Legt jemand das Telefon mit «Arschloch» auf, dann frage ich mich, warum und ab wann das Gespräch nicht gelungen ist, und wir besprechen es in der Supervision. Vielleicht kam ich zu schnell mit Ratschlägen. Am Telefon sind wir keine Ratgeber. Per Mail können wir das tun, sie sind länger, ausführlicher, wie Briefe. Im Gespräch habe ich mich auch schon entschuldigt. Die anrufende Person kann entscheiden, ob sie weitermachen will oder nicht.
Hemmy: Damit ein Gespräch gelingt, bin ich bereit, sehr viel zu geben; da bin ich ehrgeizig. Ich kann auch Provokationen oder Beschimpfungen gut einstecken. Vielleicht braucht es diese in dem Moment. Wut weckt auch meine detektivische Neugier: Was steckt dahinter? Wenn trotz allem keine Verbindung entsteht, bin ich bemüht, das Gespräch zumindest gut und anständig abzuschliessen.
Wesley: Wir sind am Telefon immer sehr wach, hören gut zu und versuchen anzuknüpfen. Um Feinheiten zu bemerken, muss man präsent sein. Einige Anrufende melden sich öfter, manchmal über Monate oder Jahre hinweg. Dann frage ich mich jedes Mal, ob etwas Neues zutage kommen wird – welchen Aspekt kenne ich noch nicht?
Was haben Sie bei Tel 143 gelernt?
Wesley: Dass unsere Gesellschaft unglaublich bunt und alles Leid nur ein Ausschnitt davon ist. Das macht mich dankbar, dass es mir so gut geht.
Hemmy: Ich bin noch toleranter und viel differenzierter geworden. Andere zu beurteilen, ist nicht so einfach. In Diskussionen dazu stehe ich für die Vielfalt von Lebenswirklichkeiten und Perspektiven ein. Meine Erfahrungen bei Tel 143 machen meinen Blick, wie man etwas anschauen kann, reichhaltiger. Das Leben mit all seinen Facetten bewegt sich zwischen ganz vielen Grau- bzw. Farbtönen.
Wesley: Und genau diese Buntheit ergibt sich erst aus der Summe aller Anrufe.
*Namen geändert. Alle Freiwilligen von Tel 143 bleiben anonym und unsichtbar.
Hemmy, 60, früher Kindergärtnerin, Didaktikerin und Heimleiterin, ist heute selbstständig erwerbend und seit 2018 bei Tel 143.
Wesley, 81, früher Medienschaffender und im Erziehungswesen auch leitend tätig, ist seit 2012 bei Tel 143.
Tel 143 – offene Ohren und Herzen
Seit Juni 2020 leitet Franziska Nydegger, 57, die Regionalstelle Bern von Tel 143. Diese gibt es seit 65 Jahren. 65 Freiwillige unterstützen Hilfesuchende dort Tag und Nacht, schichtweise und seit 2002 auch per Mail und Chat. Wer sich für dieses verantwortungsvolle Engagement eignet, zeigt sich in einem mehrstufigen Aufnahmeverfahren. «Wichtig ist, allen Menschen offen und wertneutral begegnen zu können», sagt Franziska Nydegger. Häufige Anliegen seien Einsamkeit, Alltagsbewältigung und psychische Gesundheit. Die Gespräche dauern meist zwischen fünf und 30 Minuten. «Wir beantworten täglich rund 60 Anrufe. Suizid ist zwei bis drei Mal pro Woche ein Thema.»
Weitere Infos: 143.ch
Aktives Zuhören lernen
Menschen, die viele Telefonate entgegennehmen oder mit verschiedenen Gruppen interagieren, stehen vor der Herausforderung anspruchsvoller Gespräche. Sie fragen sich: «Wie kann ich meiner Gesprächspartnerin das Gefühl vermitteln, dass ich sie verstehe?» und «Wie bleibe ich im Gespräch präsent?» Der Kurs richtet sich an Führungspersonen und Angestellte, die intern oder extern anspruchsvolle Gespräche führen. Am 29. April und 6. Mai, jeweils halbtags in Bern.
Infos und Anmeldung