Impression des Friedhofs Bern Bümpliz. Foto: Sylvia Stam

Wolfgang Bürgstein: «Umgang mit Toten ist Abbild des Umgangs mit Lebenden»

Wie bestatten wir unsere Toten? Welcher Verstorbenen gedenken wir, welche vergessen wir? Unser Umgang mit den Toten ist ein Spiegel unseres Umgangs mit den Lebenden, sagt Wolfgang Bürgstein in seinem Gastbeitrag.


Wolfgang Bürgstein*

Am Tag nach Allerheiligen, am 2. November, feiert die katholische Kirche Allerseelen. Dieses Fest ist ein Totengedenktag. Durch Gebet und Fürbitte wird der Verstorbenen gedacht, sie sollen nicht vergessen sein. Traditionellerweise besuchen wir an diesem Tag die Gräber unserer Verstorbenen und derer, zu denen wir eine besondere Beziehung hatten. Die reformierte Schwesterkirche feiert den Totensonntag am letzten Sonntag vor dem 1. Advent und beendet mit ihm das Kirchenjahr.

Menschen bestatten ihre Toten, seit jeher und überall auf der Welt. Menschen finden keinen Frieden, solange ihre Toten nicht bestattet sind und ruhen können. Die Möglichkeit, Abschied zu nehmen und zu trauern und das Wissen, dass die Toten auf eine angemessene Art und Weise versorgt und bestattet werden, ist für viele Menschen Voraussetzung dafür, dass sie wieder zu einem alltäglichen Leben übergehen und vertrauensvoll in die Zukunft schauen können. Ein würdiger Umgang mit den Toten dient auch einer ehrfurchtsvollen Hinwendung zur Würde des Lebens an sich. Im Umgang mit den Toten widerspiegelt sich unsere Wertschätzung menschlichen Lebens, der Menschenwürde und damit eng verbunden der Menschenrechte.

Würde von Toten und Lebenden achten

Deshalb ist der Umgang mit den Toten auch aus ethischer Sicht relevant: Die Würde des Menschen erlischt mit dem Tod nicht sofort und vollständig. Wie wir einen würdigen Umgang mit Toten gestalten, bringt auch zum Ausdruck, wie wir das Leben und die Würde noch lebender Personen achten und wertschätzen.

 Sterben und Tod sind auch eine soziale Angelegenheit. Die noch lebenden Angehörigen werden beim Verlust eines vertrauten und geliebten Menschen nicht alleingelassen, ein würdiger Umgang mit der oder dem Toten nimmt ihre Trauer ernst und zeigt, dass man mit dem Tod nicht vergessen geht. Das kann Kraft geben für das eigene Sterben und den eigenen Tod.

Umgang mit Toten als Machtmittel

Der angemessene Umgang mit den Toten ist aber keine Selbstverständlichkeit. Im Kontext von Flucht und Vertreibung, Krieg und Verfolgung wird das Fehlen eines angemessenen Umgangs mit den Toten zu einer bedrückenden Wahrheit, ja, die Verweigerung eines angemessenen Umgangs mit den Toten zu einem grausamen Machtinstrument. 

Besonders durch die Kriege in Palästina und in der Ukraine, durch Flüchtlingstragödien im Mittelmeer sind Sterben und Tod stärker in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangt. Kriegsverbrechen in der Stadt Butscha in der Ukraine beispielsweise haben uns drastisch gezeigt, wie der Umgang mit Toten als Machtmittel und als demoralisierendes Mittel der Kriegsführung missbraucht werden kann. 

Der Umgang mit Toten betrifft nicht nur die Toten, sondern auch deren Angehörige. Wenn Menschen in der Ungewissheit leben müssen, ob ihre Angehörigen leben oder tot sind, wenn Gräber geschändet oder Gedenkstätten zerstört werden, wenn Tote nicht bestattet werden können, betrifft dies die Hinterbliebenen und die Lebenden, ja, immer auch die ganze Gesellschaft, in der so etwas geschieht. Im Umgang mit den Toten zeigen sich Achtung und Wertschätzung menschenrechtlicher Standards in einer Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die mit Toten nicht angemessen umgeht, tut dies vermutlich auch nicht mit Lebenden.

Abbild des Umgangs mit den Lebenden

Allerseelen kann uns daran erinnern, dass unser Umgang mit den Toten immer auch ein Abbild unseres Umgangs mit den Lebenden ist. Der Tod ist zwar das Ende des Lebens, er ist aber auch eine Art «Lehrmeister» für die Lebenden. Ein würdiger Umgang mit den Toten verweist deshalb immer auch auf die Lebenden und deren Anerkennung der Würde menschlichen Lebens. 

Die Lebenden sind wir. Unsere Sensibilität für das Leiden und die Trauer von Hinterbliebenen hat immer auch «blinde Flecken», Flecken die wir nicht sehen oder nicht sehen wollen. 

Welcher Toten gedenken wir? Gedenken wir auch der unzähligen, meist namenlosen Toten, die auf der Flucht verschollen oder ertrunken sind, irgendwo ermordet, verscharrt oder entsorgt wurden? Der Toten, die in Kriegen misshandelt, verstümmelt und verbrannt wurden und so der Möglichkeit einer würdigen Bestattung beraubt wurden? Und deren Angehörigen, denen die Möglichkeit genommen wurde, an einem konkreten Ort Abschied zu nehmen und zu trauern? Es bleibt eine schmerzliche Leerstelle. Gedenken wir auch dieser Toten?

Es bleiben immer «blinde Flecken», die wir nicht sehen, an die wir nicht denken. Allerseelen kann uns einladen, über solche «blinde Flecken» nachzudenken – unter den Lebenden und den Toten. 
               

* Wolfgang Bürgstein ist Generalsekretär von Justitia et Pax

 

Buchtipp:
Der gesellschaftliche Umgang mit den Toten – eine Frage der Menschenwürde! (2023), hrsg. v. Deutsche Kommission Justitia et Pax, Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden 142, 10.