Nicolas Betticher in der Sendung Sternstunde am 20. März 2022 Foto: Screenshot SRF

«Wollte Jesus eine Kirche, wie wir sie heute leben? Nein»

21.03.2022

Der Berner Pfarrer Nicolas Betticher in «Sternstunde Religion»

Der Berner Pfarrer Nicolas Betticher kritisiert in der SRF-Sendung «Sternstunde Religion» Machtmissbrauch von Schweizer Bischöfen: «Ich begleite seit mehreren Jahren Priester, die leiden.» Seinen offenen Brief an Papst Franziskus hat er nicht abgeschickt.

Raphael Rauch

Der Berner Pfarrer Nicolas Betticher war am Sonntag Gast in der SRF-Sendung «Sternstunde Religion». Darin berichtet er über seine Erfahrungen im Umgang mit Missbrauch und Machtmissbrauch. Als ehemaliger Kanzler, Offizial und Generalvikar des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg hat er viel erlebt.

Bischof «gar nicht richtig fähig», sein Amt auszuüben

Betticher berichtet, wie er im Jahr 2007 viele Missbrauchsopfer empfangen habe: «Ich habe Menschen gesehen, die nicht mehr sprechen konnten.» Die Kirche habe «Menschen zerstört, das kann man nicht mehr gutmachen». Das Einzige, was für die Kirche nun möglich sei: «Wir schauen in die Zukunft. Wie machen wir es besser?»

Machtmissbrauch finde nach wie vor statt, sagt Betticher: «Ich begleite Priester, die unter ihrem Bischof leiden.» Ohne Namen zu nennen, berichtet er von einem Bischof, der «vielleicht gar nicht richtig fähig» sei, sein Amt auszuüben, und «dann plötzlich von oben herunter top down agiert und den Priester dann so in eine Sackgasse führt, dass der Priester nicht mehr weiss, wie es weitergehen soll». Wenn ein Bischof nicht tue, was er machen müsse, «ist das auch ein Machtmissbrauch, ein Missbrauch seiner Verantwortung», sagt Betticher.

Ämter-Splitting

Er habe «letzthin einen Fall gesehen von einem Priester, der verurteilt wurde in einem aussergerichtlichen Verfahren und nicht in einem ordentlichen Verfahren». Bei einem ausserordentlichen Verfahren kann der Bischof praktisch im Alleingang entscheiden: «Solange die Kirche solche Sachen erlaubt, sind wir auf dem schlechten Weg.» Die Kirche brauche unabhängige Gerichte.

Betticher plädiert in der Sendung für ein Ämter-Splitting: Ein Bischof könne nicht oberster Richter, Chef der Exekutive und der Legislative sein – und noch dazu für die Priester als spiritueller Vater ein offenes Ohr haben. «Das Splitting wäre eine Lösung.»

Frauen sollen am Dritten Vatikanischen Konzil mitwirken

Über das Verhalten von Benedikt XVI. im Münchner Missbrauchskomplex sagt Betticher: «Heute sieht man mit einer Brille zurück, die anders ist als damals.» Doch selbst mit dem Wissen von damals hätte man anders handeln müssen. Auch wenn es keine klaren Prozeduren gegeben habe: «Es geht einfach um das Menschliche, das man in sich trägt. Und da steht man auf und sagt ‘Halt!’ und macht etwas. Ich kann das heute einfach nicht verstehen.»

Betticher stellt die Frage: «Wollte Jesus eine solche Kirche, in der wir heute leben?» Seine Antwort: «Nein!» Die Kirche solle das Evangelium in den Vordergrund rücken. Männer und Frauen sollten gemäss ihrem Charisma eingesetzt werden. Betticher wünscht sich ein Drittes Vatikanisches Konzil, an dem auch Frauen mitwirken.

Brief an Franziskus nicht abgeschickt

SRF-Moderatorin Olivia Röllin fragt Betticher, was aus seinem Brief an Papst Franziskus geworden ist. Im Oktober 2021 fielen die Missbrauchsdebatte in Frankreich und der Start des synodalen Prozesses zusammen. Betticher hatte damals angekündigt, einen offenen Brief an Papst Franziskus zu schicken. Die Kernaussage des Briefes lautete: «Gerne wirken wir im synodalen Prozess mit. Aber bitte: setzen Sie ein klares Signal.» Die Kirche müsse ihre Strukturen ändern.

Betticher sagt, er habe den Brief nicht abgeschickt, weil er nicht mit einer Antwort von Franziskus rechne: «Ich weiss ganz genau, dass ein solcher Brief nie bis zum Papst kommt.» Es sei ihm um das «Aufrütteln meiner Pfarrei» gegangen. Und das habe er erreicht: «Es gab spannende Diskussionen in meiner Pfarrei.»

Verantwortung wird nicht wahrgenommen

Mathias Wirth, Assistenzprofessor für Systematische Theologie an der Universität Bern, der zusammen mit Doris Reisinger ebenfalls Gast der Sendung ist, findet: An diesem Beispiel zeige sich das Problem der «Verantwortungswahrnehmung» der katholischen Kirche.

Die katholische Kirche gehe nicht von einer Binnen-Moral aus, sondern von einer allgemeinen Moral – gegen die sie trotzdem ständig verstosse. «Wenn nicht mal ein Pfarrer in Bern glaubt, dass ein Brief zu einer wichtigen Angelegenheit bei der Führungspersönlichkeit einer Institution ankommt, dann wird Verantwortung schlicht in den basalen Angelegenheiten nicht wahrgenommen.» kath.ch

 

Nicolas Betticher in der Sendung Sternstunde am 20. März 2022