Wortkargheit

03.10.2024

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Ich mag das Wortkarge. Die Stille. Das erfahre ich auch während einigen Tagen im Kloster. Den Übergang von Nacht zu Tag bis nach dem Frühstück verbringen wir schweigend. Auch tagsüber sitzen wir immer wieder in Stille. Jeden Tag kommen mir Sätze abhanden. Auch wenn das Reden erlaubt ist, fallen mir kaum mehr Worte zu. Fast wüstenhaft fühlt es sich an, dieses wortlose Dasein.

Ich beobachte mich selbst. Ich gehe achtsamer. Ich esse achtsamer. Ich komme leicht zur Ruhe. Auch in der Seelsorge sind viele Worte oft fehl am Platz. Zuwendung geschieht nicht über Worte, sondern über Präsenz und achtsames Dasein. Wir üben. Jeden Tag. Wo Menschen achtsam beisammen sind, entstehen Heilräume, höre ich, und dann geschehe etwas Einmaliges.

Wir sitzen in Gruppen zusammen. Vier, fünf Personen in einem Kreis. Jemand erinnert sich an eine belastende Situation, die beschäftigt. Sie erzählt, ohne Worte. Die anderen gehen mit. Achtsam und präsent, ohne den Inhalt der Geschichte zu kennen. Ich sehe Anspannung im Gesicht der Geschichtenerzählerin, später Erleichterung, und schliesslich scheint eine tiefe Traurigkeit den Raum zu füllen. Ich achte auf meinen Atem. Mehr nicht. Danach dürfen wir Worte brauchen.

Wie im Theater sei es gewesen, sagt die stumme Erzählerin. Das Problem sei in ihrem Inneren aufgetaucht, vielfarbig und laut, chaotisch und dröhnend. Plötzlich, wie ein weisser Schleier, habe sich eine grosse Ruhe über all das gelegt. Im nächsten Aufzug: Traurigkeit und zunehmend Akzeptanz und Gelassenheit.

Die Atmung als wichtige Orientierung, dann fiel der Vorhang, und sie öffnete die Augen. Ruhig sei sie jetzt und gelassen. Das Problem sei noch da, aber anders. Heilende Räume entstehen in der Präsenz von Menschen, höre ich. Das Verhältnis zu allem, was uns umgibt und uns geschieht, kann sich in diesem heilenden Feld göttlicher und menschlicher Gegenwart verändern. Im achtsamen Dasein, im wortkargen Mitgehen der Seelsorgerin wandelt sich die Szene, unmerklich und nachhaltig. Schweigen ist Gold. Mascha Kaléko schreibt:

Mein schönstes Gedicht?
Ich schrieb es nicht.
Aus tiefsten Tiefen stieg es.
Ich schwieg es.
 

Simone Bühler, Seelsorgerin Inselspital