Alte liturgische Geste: Papst Franziskus legt in der Mitternachtsmesse das Jesuskind in die Krippe. Wie alle Päpste vor ihm. Foto: Reuters
Worum es geht
Dramaturgin Stephanie Gräve und ihre ganz persönlichen Weihnachtsgeschichten
In den vielen Krippenspielen und Liturgien von Rorate bis Mitternachtsmesse wird es jedes Jahr augenscheinlich: Kirche und Theater haben viel gemeinsam. Nicht nur wegen den professionellen Inszenierungen, nein, auch wegen der Vermittlung von Werten. Eine, die das in den Berner Kirchen und Theater erkundet hat, ist die Schauspieldramaturgin Stephanie Gräve. Ein theatralisch-kirchlicher Weihnachtsartikel.
Von Stephanie Gräve*
«Sag doch deinen Satz nochmal, ach bitte!», bettelten die grossen Mädchen. «Es ist so süss, wie du den Satz sagst.» Das kleine Mädchen mit der dicken Brille tat, wie ihm geheissen, wiederholte den Satz, den es im Krippenspiel aufzusagen hatte: «Und das ewige Licht leuchte ihnen.» Nur hatte es einen Sprachfehler, sogar einen doppelten, darum klang der Satz zum Entzücken der anderen so: «Und das ewige Jischt jeuschte ihnen.»
Das war 1975, Vorweihnachtszeit in St. Barbara, Duisburg-Marxloh, das siebenjährige Mädchen mit dem Sprachfehler, das am Krippenspiel der Messdiener*innen teilnahm, war ich. Im progressiven Ruhrgebiet war es schon in den 70ern üblich, dass Mädchen am Altar standen; allerdings waren die sonst älter, man konnte erst nach der Erstkommunion Messdiener*in sein.
Weil eine schwer erkrankte Grossmutter meine Erstkommunion unbedingt erleben wollte, hatte ich sie schon mit sechs empfangen und stand nun schüchtern und ängstlich da, was die Grösseren niedlich fanden. Ich fürchtete mich vor dem öffentlichen Auftritt; als ich meinen Satz am Weihnachtsabend in der übervollen Kirche schweissgebadet abgesondert hatte, wusste ich sicher: Schauspielerin werde ich nicht. Wenigstens lachte keiner, doch meine Schwester erklärte mit der Grausamkeit der Achtjährigen «Weil es keiner gehört hat, du hast ja genuschelt.»
Als ich fast 20 Jahre später am Theater landete, meinem kindlichen Vorsatz treu nicht auf der Bühne, sondern als Dramaturgin im Zuschauerraum, war immer wieder mal die hohe Messdiener*innendichte (genauer: Ex-Messdiener*innen) unter Schauspieler*innen und Regisseur*innen Gegenstand von Spekulationen beim abendlichen Wein. Der Hang zur Zeremonie und Inszenierung, die Rolle, die wir früh auf der Bühne des Altarraums im Kostüm gespielt hatten – womöglich hatte uns das fürs Theater anfällig gemacht?!
Bestimmt, wir waren uns mit fortgeschrittenem Abend immer sicherer. Und die Musik, die feierlichen Prozessionen! Die mit Inbrunst gesprochenen Texte! Der Sinn für Kunst und Ästhetik! Die Predigten! Die Idee der Gemeinschaft – alles genau wie im Theater!
Einiges war sicher dran an den weinseligen Thesen, warum eine Kindheit als Messdiener*in auf direktem Wege zum Theater führt. Doch ein Aspekt fehlte, der mir heute umso wichtiger erscheint: die Idee gesellschaftlicher Wirksamkeit. Auch dies nahm ich mit von der linkskatholischen Kindheit im Arbeiterviertel: Dass wir eine gesellschaftliche Aufgabe haben, dass Christentum heisst, Kritik üben an den Ungerechtigkeiten des Systems, sich engagieren, gar Widerstand leisten.
Wir lasen Thomas Morus und Dietrich Bonhoeffer, beschäftigten uns mit Widerstandskämpfer*innen der NS-Zeit, wir waren antifaschistisch, friedensbewegt. Das mit dem Widerstand konnte weit gehen in den 70ern, die junge Betreuerin unserer Kindergruppe verbrachte später Jahre im Gefängnis. Weil sie als RAF-Sympathisantin Anschläge verübt hatte, auf Strommasten und Kaufhäuser (nachts, weil kein Mensch zu Schaden kommen sollte, so weit ging die christliche Prägung).
Auch ich fand in den 80ern heraus, dass links von der katholischen Kirche noch viel Raum war, zog mich aus der Gemeinde zurück, trat irgendwann ganz aus der Kirche aus. Eine Weile war sie nur Gegenstand erwähnter weinseliger Betrachtungen – und wurde natürlich auf der Bühne äusserst kritisch dargestellt.
Trotzdem war es das Theater, das mich wieder mit der Kirche in Kontakt brachte. Denn vermittelt worden war mir auch die Idee einer historischen Verantwortung: Dass wir erinnern und mahnen müssen. Jedes Jahr gestaltete ich das künstlerische Programm für die Gedenkveranstaltungen zum 9. November und 27. Januar, wurde in Bonn über die jüdische Gemeinde Mitglied der «Initiative zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus» – und da traf ich sie wieder, die engagierten Christ*innen meiner Kindheit, und wir stellten fest: Eigentlich sollten Theater und Kirche zusammen arbeiten.
Denn eigentlich haben wir einiges miteinander zu tun. Oder, wie die Journalistin Esther Slevogt in einer Podiumsdiskussion mit Intendant Ulrich Khuon, Präsident des deutschen Bühnenvereins, feststellte: «Das haben Theologen und Theaterleute gemeinsam: Sie wollen die Menschen zu besseren Menschen machen.»
Sie meinte das anerkennend, denn, da war man sich einig auf diesem Podium in der Berliner Böll-Stiftung zu «Theater und Demokratie»: Wir brauchen mehr denn je die Auseinandersetzung mit, die Thematisierung von, das Fragen nach Werten. In Zeiten zunehmender Individualisierung und Entsolidarisierung sollten die grossen gesellschaftlichen Institutionen für die Idee der (Solidar-)Gemeinschaft einstehen.
Für (humanistische, christliche, menschliche, wo immer man das herleiten mag) Ideale und Werte. «Es geht darum, Haltung zu haben und zu zeigen», formulierte der studierte Theologe Ulrich Khuon als Aufgabe für sich und die Theater. Da müsste jede Christin, jeder Christ unterschreiben. Die Idole meiner Kindheit, die Vertreter*innen der katholischen Soziallehre von KAB und Kolping, haben es getan, und teils mit dem Leben dafür bezahlt. Da ist es für uns heute in Westeuropa doch einfach.
Und nun das Theater: Wir sind Künstler*innen, könnte man sagen. Ist das nicht eine Instrumentalisierung von Kunst? Ich denke nicht. Und das Theater ist letztlich eine Zwitterkunst, weil die Inszenierung nicht von dem einen originären Geist geschaffen wird, es ist eine Kunstform, die in Gemeinschaft entsteht – und für eine Gemeinschaft.
Was das Theater von einem Gemälde unterscheidet: Das Gegenüber ist sozusagen immer inbegriffen. Theater kommt von theaomai, anschauen. Das ist die Grundverabredung, einer spielt, ein anderer schaut zu, denkt mit. Ohne Zuschauer*in kein Theater. Letztlich ist das Stadttheater eine tolle Errungenschaft: Eine Stadt leistet sich ein Theater, ihr Theater. Daraus erwächst die Verantwortung der Institution, für die ganze Stadtgesellschaft da zu sein, nicht nur glitzerndes Luxusspielzeug einer bürgerlichen Elite.
Die gesellschaftliche Öffnung der Häuser ist in der Schweiz durchaus ausbaufähig – ich erinnere mich, wie überrascht man im Kompetenzzentrum Integration und im BFF in Bern war, als ich, die Schauspieldirektorin, mit dem Anliegen vorsprach: Lasst uns Wege der Zusammenarbeit suchen! Wir möchten mit unserer künstlerischen Arbeit Bevölkerungsschichten erreichen, die bisher keinen Zugang zum Theater finden. Leider liegen solche Initiativen nun wieder brach.
Man muss das nicht machen, um die Ränge zu füllen; die Publikumszahlen in Bern sind einigermassen stabil (laut Statistik SBV: knapp 95 000 verkaufte Karten ohne Konzerte in 10/11 und 15/16, nach der Fusion mit Konzerten 124 000). Weder grosser Schwund noch Zuwachs. Es bleibt eine Frage der eigenen Wertvorstellungen: Möchte man möglichst viele Menschen in einer Stadt erreichen oder nur eine Elite? Vertritt man ein gesellschaftliches Anliegen oder sieht man Theater als bürgerliche Repräsentationskiste? Oder, um mit Khuon zu fragen: Hat man eine Haltung?!
In der Vorweihnachtszeit 2017 finde ich mich am Altar wieder, in Bümpliz, bei den Proben zum Krippenspiel in St. Antonius. Es ist die Uraufführung eines Werks von Angelo Lottaz und Bruno Wyss, und eine Krippe kommt nicht vor. Stattdessen wird eine heutige Geschichte erzählt: Eine syrische Familie sucht nach gefahrvoller Flucht in der Schweiz Asyl.
Profis und Laien aus der Schweiz und dem Ausland stehen gemeinsam auf der (Altar-)Bühne, und es gibt Gänsehautmomente, wenn Mawuli, Asylbewerber aus Togo, in der Rolle eines Schweizer Grenzwächters singt: «Wir haben euch nicht gerufen/Wir haben euch nicht gewollt/Zum Heimatschutz sind wir berufen/Damit ihr uns nicht überrollt.» Es bedeutet den beteiligten Asylbewerber*innen viel, dabei sein zu können. Und wir sind zuversichtlich, dass das Thema, dass die spezielle Besetzung Menschen aus Bümpliz, Bethlehem und Bern anlocken wird, die normalerweise keinen Zugang zum Theater haben.
Dann wäre etwas erreicht.
*Stephanie Gräve (*1968), aufgewachsen in Duisburg/D. Dramaturgin, Kuratorin, Autorin und Projektmanagerin (diese Weihnacht in Bümpliz).
Sie war bis 2016 Schauspieldirektorin von Konzert Theater Bern und ist neu designierte Intendantin des Vorarlberger Landestheaters in Bregenz.
Foto: Tanja Läser