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Wunder?

16.12.2021

Gedanken aus der Inselspitalseelsorge

Ich warte auf dem Korridor. Ich möchte Frau Grau besuchen, doch dort weilt gerade die Chefvisite. Es dauert länger, die schwer betroffene Frau hat viele Fragen. Sie sieht keinen Weg vor sich. Vorletzte Nacht hat sie sogar in der Psychiatrischen Klinik verbracht. Da öffnet sich die Tür: mit grosser Geste stürzt die Klinikverantwortliche aus dem Zimmer und hält sich an mir, dem erstbesten Halt, fest.

Ich bin überrascht, denn unsere Beziehung ist in der Regel nicht so vertraulich. Schnell verstehe ich, dass sie momentan Unlösbares zu bewältigen hat. Enorm aufwendige Patientensituationen bei grosser Personalknappheit. Nun ist zusätzlich ein Patient positiv auf Covid getestet worden, was bedeutet, dass sie Pflegende, welche enger mit diesem Patienten in Kontakt standen, nach Hause schicken muss. «Kann ich euch irgendwie unterstützen? », frage ich etwas hilflos. «Ein Wunder wäre nicht schlecht!», meint sie. «Wenn du bei Frau Grau ein Wunder bewirken könntest, wäre uns schon sehr geholfen.»

Ich zeige mich zurückhaltend realistisch. Ich kenne Frau Grau schon lange. Manchmal gibt es sich, dass sich während eines Gespräches ihr Gemüt kurzfristig aufhellt, aber ich würde mir nie anmassen, ihre dunklen Wolken verscheuchen zu können. «Also, wenn dieses Wunder nicht geht, wäre mir auch mit zehn Pflegenden gedient. Sieben Diplomierte und drei FAGEs, alle zu hundert Prozent! Ich würde mich persönlich an den Papst wenden und dich zur Heiligsprechung anmelden, wenn dir dieses Wunder gelänge, ehrlich», fügt sie an und ich bleibe für einen Moment sprachlos. Ich sehe an ihrem Gesichtsausdruck, dass ihre Not wirklich gross und sie nicht zum Scherzen aufgelegt ist.

Eine weisse Schürze kann ich nicht anziehen zum Helfen und so zottle ich unverrichteter Dinge wieder ab. Beim Hinausgehen erhasche ich einen Blick in ein Patientenzimmer, wo eine junge Pflegende einem Patienten liebevoll beim Frühstück behilflich ist – als hätte sie alle Zeit der Welt. Genau hier geschieht ein Wunder: wenn trotz allem immer noch gute Pflege möglich ist.

Marianne Kramer, ref. Seelsorgerin

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