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Zeitverdichtungen
Aki-Kolumne von Geneva Moser
Donnerstags trifft sich das aki-Team zum Atemholen, zu einer kurzen Abendmeditation, bei der auch Studierende teilnehmen können. Das Atemholen schliesst direkt an die Teamsitzung an und vor dieser wieder- um findet der Mittagstisch statt. Dazwischen «geschehen» Gespräche mit Studierenden, der Abwasch, das Einrichten der Kapelle, die Beantwortung diverser Mails, dies und das... Nicht selten komme ich also atemlos ins Atemholen. Mich einzulassen auf den Moment, fällt mir nicht leicht. Ich brauche Zeit. Das Aus- ziehen der Schuhe vor der Kapelle, das Eintreten in den mit Teppich ausgelegten Raum, das Kreuzzeichen, das Anzünden der Kerzen – sie unterbrechen den Fluss der Zeit, setzen einen Anfang. Ich setze mich hin. Wir singen. Lesen einen biblischen Text. Tauschen uns aus. Schweigen. Beten. Denken nach. Gegen Ende des Atemholens bin ich meist verändert: ruhiger, präsenter, klarer.
Kürzlich passierte es mir, dass ich mitten in der Stille unwillkürlich nach oben, an die zentrale Stelle im Raum, schaute. In vielen Räumen hängt an dieser Stelle eine Uhr, die man von überall im Raum her sehen kann, damit alle die Zeit im Blick haben. Mein Blick sucht die Uhr, ich will die Zeit wissen. In diesem Raum aber hängt an dieser Stelle nicht die Uhr, sondern das Kreuz. Ich muss ein wenig schmunzeln über meinen Reflex: Wie viel Uhr ist es, wie viel Zeit haben wir noch, sind wir gut in der Zeit? Die quantifizierende Zeit gibt Orientierung und Halt, Erlebniszeit dagegen ist offener Raum. Die Idee des Atemholens – die chronologisch laufende Zeit zu bündeln und zu verdichten in Erlebniszeit, in «a-chronische Gegenwarten», wie es Aleida Assmann formuliert – scheitert in diesem Moment. Tröstlicherweise hält die Kulturwissenschafterin auch fest: Menschen sind von ihrer sinnlichen Ausstattung her nicht gemacht für den Jetztpunkt, der nur ein ausdehnungsloser Umschlag von Zukunft in Vergangenheit ist. Aber das Zeiterleben ist doch mehr als das chronologische Laufen, mehr als die Aneinanderreihung von Handlungen. Wir kennen geformte Zeit, die einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss hat, beispielsweise bei einem Theaterbesuch. Wir kennen erfüllte Zeit, bei der durch Überraschungen, Zufälle, Begegnungen intensive Augenblicke entstehen. Oder wir kennen fokussierte Zeit, bei der unsere Aufmerksamkeit sich ganz auf etwas Bestimmtes richtet. Völlig konstruierbar sind diese Zeiten nicht. Durch Strukturen und Rhythmen lässt sich Zeit aber zumindest gestalten.
Der Fluss ist formbar: Die rituelle Wiederholung beispielsweise, schafft den Unterschied zwischen Alltag und Fest.
Flüchtig bleiben sie dennoch, die Zeitverdichtungen. Auch im Atemholen: Hier steht die Uhr nicht an der zentralen Stelle im Raum, zumindest für einen Moment.