Massiver Druck. Foto: Keystone, Zsolt Czegledi
Zerbrechliches Leben
Die Frühgeburtenrate ist steigend, Mehrlingsschwangerschaften nehmen zu - eine medizinische und ethische Herausforderung.
Claire*, eine junge Genfer Unternehmerin, hat vor Kurzem in der 33. Woche Zwillinge geboren. Sie entschied sich nach reiflicher Überlegung für einen Kaiserschnitt, doch die Klinik legte ihr im Interesse der Kinder eine natürliche Geburt nahe. Sie willigte am Ende ein und bedauert dies heute.
«Nach 20 Stunden vorzeitiger Wehen entschieden sich die Ärzte für einen Not-Kaiserschnitt, da es den Kindern nicht mehr gut ging», berichtet sie. «Unser Sohn und unsere Tochter wurden geboren – und es blieb still. Sie weinten nicht.» Das Entsetzen der Eltern kann man sich vorstellen. Ein Team nahm die Kleinen mit. Nach etwa 15 Minuten holte man den Vater und teilte ihm mit, dass sein Sohn einen Herzstillstand erlitten hatte. Sein Überleben hänge am seidenen Faden.
«Ich lag im OP. Mir sagte das Team betroffen, unser Sohn sei lebensgefährlich krank», berichtet Claire*. «Die nächsten 20 Minuten sandte ich meinem Kind meine ganze Energie und ermutigte es zu leben. Es waren die schrecklichsten Momente meines Lebens.» Der Kleine überlebte.
Die Eltern konnten viele Stunden nicht zu ihren Kindern! Die erste Zeit danach war es für den Vater sehr belastend, dass Mutter und Kinder auf drei verschiedenen Stationen lagen. Er eilte von einem zum anderen und alle brauchten ihn ...
Monika Huwiler erlebte vor 14 Jahren Ähnliches. «Die Zwillinge kamen nach einer Infektion überraschend in der 28. Woche per Kaiserschnitt zur Welt. Ich hörte sie zwar nach der Geburt, konnte sie aber 24 Stunden lang nicht sehen, da sie auf einer anderen Abteilung behandelt wurden. Mein Mann durfte sie besuchen und es gab ein Foto.» Monika befürchtete, dass ihre Kinder sterben könnten «ohne dass ich sie berührt, sie je im Arm gehalten hätte!». Sie war handlungsunfähig und verzweifelt. «Heute würde ich kämpfen, damit ich meine Kinder sehen kann. Damals hat man die Verantwortung an die Ärzte abgegeben.» Nach der Geburt wurden die Eltern intensiv in die Entscheide miteinbezogen.
Die eineiigen Zwillinge hätten gut in ein Forschungsprojekt gepasst. Doch die Eltern lehnten eine Teilnahme ihrer Kinder ab – der Gedanke, dass zusätzliche häufige Blutentnahmen ihnen Schmerzen bereiten würden, war für sie nicht akzeptabel. «Obwohl ich wusste, dass die Ergebnisse früherer Forschung auch für meine Kinder wichtige Ergebnisse mit sich gebracht haben.» Huwiler berichtet dies bis heute mit einer grossen Ambivalenz.
Beide Mütter berichten von traumatischen Erlebnissen – loben aber auch. Claire* betont, dass sie während der Geburt gut betreut wurde, beklagt aber, dass man sie kurz danach «zu spät und unzureichend über die Behandlungen der Babys informierte». Die MedizinerInnen und Pflegenden der Neonatologie dagegen empfand sie als hilfreich. Und: «Das Team dort hat das Leben unseres Sohnes gerettet, wir werden ihnen ewig dankbar dafür sein!» Beide Ehepaare erhielten keine spirituelle/religiöse Hilfe in dieser Schocksituation von Seiten des Spitals.
Monika Huwiler fand Hilfe im eigenen Glauben und Gebet. Claire* bot man psychologische Unterstützung an, doch sei die betreffende Person weder kompetent noch hilfreich gewesen. Spirituelle Hilfe hätte das Ehepaar begrüsst. In diesem Bereich sind offensichtlich noch Verbesserungen möglich. In den letzten Jahren hat sich bei der Behandlung der Frühchen einiges geändert. Der nahe, auch zeitnahe Kontakt von Eltern und Kindern ist sehr wichtig.
Pflegende und ÄrztInnen möchten sich auf Nachfrage nicht zu den Gründen äussern, warum Claire* und ihr Mann so lange nicht zu ihren Kindern durften. Sie betonen aber, dies sei heute sehr ungewöhnlich.
Wann welche Behandlung?
Professor Oskar Baenziger ist Neonatologe und Kinderarzt. Er hat lange in diesem Bereich der Spitzenmedizin gearbeitet. Auf die Frage, warum seit 2011 die Grenze für die Intensivbehandlung der Kleinen nach unten verschoben wurde, sagt er, die 24. Woche sei weiterhin ein wichtiges Datum. Doch es gehe heute immer um das einzelne Kind: Mit welche Erkrankungen wird es geboren, wie ist sein Allgemeinzustand? «Dabei werden die Eltern miteinbezogen. Dazu kommt das ganze Team von Medizinern wie auch Pflegenden, die in diesen Prozess involviert sind, um die 20 Personen. Manchmal muss man auch demütig sagen: «Es geht nicht!»
Die Richtlinien zum Abbruch lebensverlängernder Massnahmen gibt die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften vor. Die meisten Kliniken haben eigene Abläufe entwickelt, eine gesetzliche Regelung dazu gibt es nicht. Die Kostenfrage spiele aber keine Rolle, betont Baenziger.
Ausserdem müssen immer auch die Spätfolgen für die Kinder berücksichtigt werden. Vor allembei extrem frühgeborenen Kindern kann es zu motorischen Störungen, Taubheit, Blindheit, Lungen, Herzund Darmschäden, Hirnblutungen sowie schweren körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen kommen. Baenziger, der heute als Kinderarzt LangzeitKontrollen durchführt, betont aber das Ermutigende: Viele dieser Kinder gedeihen gut. «Dazu stärken wir die Ressourcen der Eltern, damit sie auch mit einer Einschränkung bei den Kindern umgehen können.» Nach einer Studie** beurteilen übrigens Frühgeborene im Alter von 20 bis 25 Jahren in der Mehrheit ihre Lebensqualität als gut. Dies nicht selten im Gegensatz zu den Nahestehenden.
Monika Huwilers Zwillinge hatten etwa fünf Jahre lang grössere Probleme bei der Atmung, waren oft krank und lernten langsamer. Heute ist aber gegenüber den Gleichaltrigen kein Rückstand mehr spürbar. Die Mutter betont, dass die Ehe teilweise unter einem massiven Druck stand. «Es war ein schmerzvoller Weg und dazu gehörte auch die Trauer um einen ‹normalen› Start als Familie.» Hilfe fand sie in einer Selbsthilfegruppe. Dort sah sie auch Kinder mit massiven Spätfolgen. «Eltern wünschen sich oft, dass das Kind um jeden Preis überlebt. Doch sie sehen manchmal zu wenig, was das lebenslang heissen kann.» Dem stimmt die Intensivpflegefachfrau zu.
Wie wird entschieden?
Andrea*, diplomierte Expertin in Intensivpflege Pädiatrie, zählt die Grundsätze dieser Entscheidungen auf: Die Autonomie des Patienten – bei Kindern durch die Eltern vertreten – muss gewahrt werden. Die Behandlung darf dem Kind nicht schaden; «hier muss oft abgewogen werden, welche Schmerzen man ihm zufügt», und man muss Gutes tun. Dies setzt auch dem medizinischen Ehrgeiz eine Grenze, alles um jeden Preis zu versuchen. «Dazu geht es um Gerechtigkeit.» So dürfen etwa Kinder wohlhabender Eltern nicht besser gestellt werden als die armer.
Baenziger betont, dass man heute die Befindlichkeit der Kinder und deren Schmerzen ernster nehme als früher. Der Ehrgeiz der MedizinerInnen stehe nicht im Vordergrund – wobei er eher vom Wissensdrang sprechen möchte. Dieser habe immerhin zu wichtigen Ergebnissen beigetragen, von denen die Frühgeborenen heute profitieren!
Wenn es um die Weiterführung oder den Abbruch der Behandlungen geht, stellen sich schmerzvolle Fragen. Hier spielen der Glaube, die Kultur und die Religion der Eltern eine grosse Rolle. EthikerInnen werden in vielen Spitälern beigezogen. Können Eltern und das Team sich nicht einigen, wird eine Zweitmeinung eingeholt. Wird die Behandlung eingestellt, lässt man das Kind und die Eltern nicht allein – es gibt palliative Pflege, um die Schmerzen zu lindern und den Eltern bei ihrem Abschied beizustehen.
Die Möglichkeiten, Frühchen zu retten, sind bedeutend grösser geworden. Der Neonatologe sowie die Pflegende berichten, dass damit die Belastung aller Beteiligter ebenfalls wächst. Die Pflegenden stehen von mehreren Seiten unter Druck: «Die Eltern möchten Antworten, die aber nur die Ärzte geben dürfen. SpezialistInnen sehen manchmal nur ihr Gebiet, aber nicht das Kind in seiner Ganzheit. So plädieren sie für eine weitere Operation oder Behandlung, weil es machbar ist», so Andrea*. Die Pflegenden sind auch eng mit den Eltern und deren Leid und ihrer Freude verbunden. Dazu kommt oft ein Pflegekräftemangel bei hochkomplexer Medizin.
Immer mehr offene Fragen
Die Fertilitätsmedizin hat durch ihre wachsenden Möglichkeiten die Anzahl der Frühgeburten mit erhöht. Professor Baenziger betont, dass die Richtlinien in diesem Bereich in der Schweiz «sinnvoll und gut» seien. Doch nicht wenige gehen ins Ausland. Dort werden dann «Begehrlichkeiten geweckt und Kinder auch nach der Menopause möglich gemacht ». Eine Pflegende berichtete mir, dass eine Mutter mit Rollator ihr Frühgeborenes besuchte.
Die Möglichkeiten der Medizin stellen die Gesellschaft wie die Einzelnen vor immer schwierigere Fragen. (Und dies am Lebensanfang wie am Lebensende.) Wann wird wie lange behandelt – in welcher Situation bricht man die Behandlungen ab? Was ist ein würdiges Leben? Welche Behandlungen und Eingriffe zur künstlichen Befruchtung sind angesichts der Folgen erlaubt? Dazu kommen mögliche Eingriffe ins Erbgut, Eiund Samenspenden, Leihmutterschaft. (Dies ist auch ein gigantischer finanzieller Markt.) Welche Folgen hat dies für die Gesundheit, auch die seelische, dieser Kinder? Die Fragen vermehren sich in rasendem Tempo – die juristischen und ethischen Antworten müssen sorgsam gesucht werden und hinken stark hinterher. Die Frage «was ist der Mensch» stellt sich mit einer neuen Schärfe.
Christiane Faschon
*Namen geändert (**Studie unter Mitwirkung des Neonatologen Thomas Berger, Luzern, 2011)
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Ganzheitlich. Eine Stellungnahme von Hubert Kössler, Inselspital
Frühgeburten
• Frühgeborene sollten nach der Empfehlung der Gesellschaft für Neonatologie 2002 erst ab der 24. Schwangerschaftswoche intensivmedizinisch betreut werden, Seit 2011 können unter günstigen Umständen auch Frühchen ab der 22. Woche gerettet werden. Von ihnen überleben etwa 30 Prozent in der Schweiz. (In Deutschland werden alle Frühgeborenen behandelt.)
• Nach einer Studie des Bundesamtes für Statistik sind 9 Prozent der Neugeborenen Frühgeburten unter der 37. Schwangerschaftswoche. Damit steht die Schweiz in Europa an zweiter Stelle. 90 Prozent dieser Kinder überleben.
• Bei Mehrlingsgeburten sind 61 Prozent Frühgeburten. Zwillingsgeburten haben sich in den reichen Ländern seit den 1970er Jahren fast verdoppelt. • Gründe für die steigende Frühgeburtenrate liegen im relativ hohen Durchschnittsalter der Gebärenden und der hohen Mehrlingsrate als Folge der zunehmenden Fruchtbarkeitsbehandlungen