Ahnung von Trost. Foto: C-David-W / Photocase.de
Zu spät?
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Einmal bin ich rechtzeitig zu spät ge kommen. Also zu spät, aber doch auch irgendwie zur rechten Zeit. Mich er reichte ein Anruf für einen Einsatz, kurz bevor ich nach Hause gehen wollte.
Ich hatte gehofft, dass noch etwas vom Nachtessen auf dem Herd steht. Das musste jetzt warten. Es ging um eine Frau, die im Sterben lag. Tagsüber sei es ihr überraschend besser gegangen. Am späteren Nachmittag aber mussten dann doch die Angehörigen gerufen werden. Lange würde es nicht mehr gehen, so die Einschätzung. Doch es dauerte. Für die Angehörigen wirkte es, als ob ihre Frau und Mutter etwas daran hinderte, loszulassen. Ein eigentümlicher Schwebezustand zwischen Bleiben und Gehen, wobei es am unausweichlichen Ausgang nichts zu rütteln gab. Was tun? Liess sich überhaupt etwas tun? Hatte sie nicht einmal gesagt, sie würde gern noch die Seelsorge sehen? Ob das helfen könnte? Ich machte mich umgehend auf den Weg. Auf einen dieser Inselwege, die kurz und lang sind, je nachdem. Im Vorbeigehen zündete ich in der Kapelle für die Frau, die im Sterben lag, eine Kerze an. Vor ihrem Zimmer wurde ich abgefangen.
«Du kommst zu spät», sagte die Pflege. Ich klopfte trotzdem an und trat ein. «Zu spät», sagte auch der Ehemann. Auf dem Bett die Frau, die soeben verstor ben war. Friedlich, wie mir schien. «Viel leicht ist sie gestorben, als ich für sie in der Kapelle eine Kerze anzündete.» Der Ehemann, die erwachsenen Kinder horchten auf. Es entstand ein Gespräch. Trauer war da. Auch Fragen. «Sie haben tatsächlich eine Kerze für sie angezün det?», sagte der Ehemann. Er erwartete keine Antwort. Die Frage glich eher einer Aussage. Etwas wie Staunen schwang mit. Vielleicht sogar eine Ahnung von Trost, irgendwann. Später.
Nadja Zereik, Seelsorgerin im Inselspital