Zum Tod von Paul Jeannerat am 31. Juli 2024

Paul Jeannerat war «mein» Pfarrer in den Siebzigerjahren in der weitläufigen, bis Schwarzenburg reichenden Pfarrei von Köniz. Unter ihm erlebte die Diasporapfarrei eine Erneuerung, die weit über Köniz ausstrahlte und spätere Entwicklungen vorwegnahm.

 

Die erst 1950 eingeweihte Josefskirche an der Feldeggstrasse, in der Paul am 8.12.1970 seine erste Messe las, platzte im Verlauf der kommenden Jahre buchstäblich aus allen Nähten. Zuzügern aus der ganzen Schweiz, von denen viele in Staatsdiensten standen, ließen sich in Berns Süden nieder. Zwischen Samstag- und Sonntagabend brauchte es fünf Gottesdienste.

Für all die außergottesdienstlichen Tätigkeiten initiierte Paul mit seinem Team den Bau einer einfachen Struktur. Aus billigen Bauelementen wurde im Winkel zwischen Kirche und Pfarrsaal ein Pavillon gebaut mit vielfältig genutzten Unterrichts- und Werkräumen. St. Josef erlebte damals Zeiten der «église provisoire» im besten Sinne und Aufbrüche jeglicher Art.

Kirchliche Hierarchien, Strukturen oder Traditionen, die unnötige Distanzen zwischen den Menschen errichteten, wurden abgebaut. Als Firmling legte ich bei Paul zum Beispiel erstmals eine Beichte außerhalb des Beichtstuhls ab. Der Gottesdienstraum konnte auch zum Konzertsaal mit Jazz oder psychedelischer Musik werden. Praktisch nach jedem Gottesdienst gab es eine Kaffeestube, organisiert von einem der vielen Vereinen und Gruppierungen, die teils wie der Kirchenchor, der Katholikenverein oder die Pfadi St. Josef noch heute existieren.

Darüberhinaus gab es gemeinsame, verbindende Feste und Ausflüge. Ja, es gab sogar Arbeitseinsätze in schwach entwickelten Gegenden der Schweiz, sei es im nahegelegenen Schwarzenburgerland oder im abgelegenen Schelten, wo die Pfarreimitglieder mit Pickel und Schaufel ans Werk gingen.

Pauls Bruder war Missionar in Peru und hat immer wieder für wichtige Verbindungen gesorgt, nicht zuletzt im Kontext von Fastenopferkampagnen. In dieser Konstellation lernte ich zum ersten Mal globale, ökonomische Zusammenhänge hautnah kennen und nahm später mit Befremden zur Kenntnis, wie wenig davon hiesigen Ökonomiestudierenden bewusst war.

Er ahnte schon früh das nahende Ende der Volkskirche

Paul Germain Jean-Baptiste, wie sein geburtsurkundlicher Name lautete, wuchs als Sohne einer italienischen Mutter und eines jurassischen Vaters zusammen mit drei Brüdern in Matten bei Interlaken auf. Die dreisprachige Prägung öffnete seinen menschlichen und kulturellen Horizont und kam nicht nur beim Infanterieregiment gut an, wo Paul Militärseelsorger war, sondern auch in der immer multikulturelleren Pfarrei St. Josef.

Franz X. Stadelmann, seine Frau Elisabeth Stadelmann-Hürzeler und Elsbeth Troxler, die heute noch Mitglieder der Pfarrei St. Josef sind, erinnern sich gerne an den bescheidenen, menschlich nahbaren, nie als Pfarrherr oder Hochwürden auftretenden Paul: «Er verstand sich als einer von lauter mündigen Mitgliedern der Pfarrei, der den Dialog mit allen suchte.

So initiierte er etwa eine Meditationsgruppe, oder eine Gruppe von Frauen und Männern ganz unterschiedlicher Herkunft, Berufe und Gesinnungen, um darüber auszutauschen, was die Kirche sein soll. Er wünschte sich von ihnen Rückmeldungen zu seinen Predigten. Was hat sie angesprochen, was nicht und warum?

Was beschäftigt sie religiös und im Alltag und worauf sollte er in den Predigten eingehen? Paul war ein impulsgebender, motivierender, ja visionärer Mensch. Er ahnte schon früh das nahende Ende der Volkskirche. Deshalb setze er auf Basisgruppen, die auch ausserhalb der Kirche gemeinsam versuchen, die christliche Botschaft im Alltag zu leben. Mitglieder solcher Gruppen oder Nachfolgegruppen wie des ‹Club schwieriger Eltern› oder der ‹Verkündigungsgruppe› wurden Freundinnen und Freunde und treffen sich noch heute periodisch.»

«Stimmt das, was ich sage?»

Paul war ein ganz und gar synodaler Mensch. Das Hören aufeinander hatte für ihn oberste Priorität. So kam es auch, dass wir in Köniz viele Gastprediger und schon damals auch -predigerinnen hörten, von denen nicht wenige Laien waren. Pierre Casetti, damals Theologiestudent an der Uni Fribourg erinnert sich, wie Paul nach einem Statement in einer kirchlichen Gruppe anwesende Laien fragen konnte: «Stimmt das, was ich sagte?»

Dankbar erinnert sich der spätere «Wort zum Sonntag»-Sprecher am Fernsehen auch daran, dass Paul ihm sofort zu predigen erlaubte. Paul sei ein Seelsorger, ein Begleiter und Förderer gewesen, weniger ein Theologe. «Theologie ist nicht so wichtig für einen Seelsorger», meinte Paul, «drei Dinge aber musst du unbedingt können: Gitarrespielen mit den Jungen, Jassen mit den Alten und Autofahren mit allen.»

Beeindruckt war Casetti von Paul, als er ihm bei der Vorbereitung auf den Gottesdienst in der Sakristei sagte, seine Mutter liege im Sterben und verlange nach der letzten Ölung. Sofort habe er das Messgewand ausgezogen, den Vikar angewiesen den Gottesdienst zu halten und habe sich auf den Weg zu den Casettis gemacht. Die krebskranke Mutter war sehr angetan vom Besuch und verschied anderntags friedlich.

Ein verlässlicher Wegbegleiter

Paul hat das Konzil tatkräftig umgesetzt im Teamwork mit Josef Moser, der dem Ideal der französischen Arbeiterpriester nachlebt und sich gerne an die gemeinsame Zeit erinnert: «Paul lebte eine starke Präsenz, dank der sich viele mitengagierten und mit ihm eine lebendige Pfarrei gestalteten. Vielen ist er in Erinnerung als Präses des Windrösli.

Für mich war Paul ein verlässlicher Wegbegleiter in meinen ersten Jahren als junger, unerfahrener Vikar. Ich erfuhr von ihm viel Ermutigung. Wir suchten und wagten miteinander neue Wege in der Zeit des Aufbruchs rund um die Synode 72. Wir blieben einander verbunden, als Paul seiner Berufung in die Ehe gefolgt ist, die es ihm leider unmöglich gemacht hat, Priester zu bleiben, was er im Tiefsten war.»

Josef Moser hat die bei und mit Paul erlebte Offenheit und Synodalität beim Aufbau der Juseso Bern zusammen mit Elsbeth und Bernhard Kasper weiterentwickelt. Er wurde in Pauls Team ersetzt durch George Studer, dem vermutlich ersten Pastoralassistenten auf dem Platz Bern.

Zwischen Fernsehredaktion und Bischöfen

Nach der Könizer Zeit absolvierte Paul eine journalistische Ausbildung und arbeitete beim kirchlichen Fernsehdienst als Nachfolger von Josef Gemperle. Dieser basierte auf den damals frischen Vereinbarungen von 1979 zwischen den Kirchen, dem Radio und dem Fernsehen. Diesen zufolge war die Redaktion auch im religiösen Bereich voll verantwortlich für die Inhalte wie in allen anderen Bereichen, hatte aber die Rechte der Veranstalter, also der Kirchen, zu respektieren.

Die Bischöfe fügten sich diesem in Europa wohl einzigartigen Setting nolens volens und so stand, wie sich der ehemalige Redaktionsleiter Erwin Koller erinnert, Paul immer wieder «dazwischen». Er erlebte ihn in der täglichen Praxis als sehr zuverlässig, kollegial, sachorientiert und offen.

Paul war verantwortlich für die Gottesdienste am Radio und im Fernsehen und feilschte mit Erwin Koller um die «Wort zum Sonntag»-SprecherInnen. Ein solcher, der Alttestamentler Othmar Keel, erinnert sich, wie er nach einer Aufsichtsklage von Paul zum Anwalt begleitet wurde und wie Paul sich wunderte, dass er unterwegs zu diesem wichtigen Termin im Auto eingeschlafen war.

Priester und verheiratet

Der Priester Paul stand zu seiner Beziehung und heiratete Heidi Gränicher, wurde ein liebevoller sorgender Vater ihrer Kinder und später Grossvater ihrer Grosskinder. Er war ein verlässlicher und treuer Mensch. Zusammen mit Heidi leistete er Pionierarbeit für verheiratete (und damit des Amtes enthobene, laisierte) Priester.

Ab den 2000er-Jahren engagierten sie sich bei der Gruppe «Zölibat und Beziehung», in der sich verheiratete Priester (mit oder ohne Dispens von der Zölibatsverpflichtung) und Priester in geheimer Beziehung mit einer Frau treffen und austauschen konnten.

Paul war auch tragendes Mitglied in der Bewegung für eine «Schweizer Tagsatzung». Er nahm, solange es ihm seine Gesundheit erlaubte, teil an einer Arbeitsgruppe der «Theologischen Bewegung für Solidarität und Befreiung», die sich mit werktäglichem Christsein befasst. Er verstand es, das Wesentliche der Gespräche prägnant zusammenzufassen. Und bis zum Ende seines Bestehens 2021 schrieb er auch die Pressecommuniqués fürs «Forum für offene Katholizität».

So legte er bis ins hohe Alter in engagierten Kreisen Zeugnis ab für eine an der Basis und damit an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Kirche, der er selber wichtige Impulse vermittelt hat. Auf dem Friedhof von Urtenen-Schönbühl fand Pauls Urne im Grabe Heidis ihre letzte Ruhestätte.

Redigiert von Thomas Staubli, nach eigenen Erinnerungen und solchen von Pierre Casetti, Othmar Keel, Erwin Koller, Josef Moser, Franz X. Stadelmann, Elisabeth Stadelmann-Hürzeler und Elsbeth Troxler mit Dank an Ruth Wagner und Christine Vollmer für den Zugang zu Archivfotos