Ausgabe der «Protokolle der Weisen von Zion» aus den 1930er-Jahren. Foto: Archiv für Zeitgeschichte, Zürich

Zur «Schundliteratur» erklärt

05.07.2023

Berner Showdown zwischen Juden und Drittem Reich

Vor 90 Jahren erhoben Juden in Bern Klage und erreichten damit,  dass die antisemitischen  «Protokolle der Weisen von Zion» zur Fälschung erklärt wurden. Der Prozess sorgte für weltweites Aufsehen. Nichtsdestotrotz berufen sich Verschwörungstheoretiker*innen bis heute auf die Schriften.

von Hannah Einhaus*

Im grössten Saal des Berner Casinos sind am 14. Juni 1933 Hakenkreuzflaggen gehisst. Die Versammelten der Nationalen Front grüssen sich mit «Haruus» und emporgestrecktem rechtem Arm. Sie wollen, dass die Schweiz sich  Hitlerdeutschland anschliesst. Auf dem Büchertisch liegen  die «Protokolle der Weisen von Zion» auf, an die auch Adolf Hitler glaubt.

Eine Gruppe jüdischer Berner beobachtet den Anlass im Casino und nimmt ein Exemplar mit.  In den  «Protokollen» wird behauptet, Juden strebten die Weltherrschaft an, seien eine Bedrohung für die Menschheit und daher mit allen Mitteln zu bekämpfen. Antisemiten beharren darauf, es handle sich um die Protokolle von 24 Ratssitzungen jüdischer Weiser, angeblich entstanden am ersten Zionistenkongress 1897 in Basel. «Das Judentum darf nicht länger unter uns geduldet werden», heisst es im Nachwort der umstrittenen Veröffentlichung. «Es ist eine Ehrenpflicht der gesitteten Nationen, dieses räudige Geschlecht auszuscheiden.»

Besonderheit im bernischen Strafrecht

Gegen diesen offenen Antisemitismus vorzugehen, ist zu jener Zeit praktisch unmöglich. Es gilt Redefreiheit, und die «Protokolle» sind seit Jahren in zahlreichen Ländern und Sprachen im Umlauf. Doch ausgerechnet in Bern sieht der einheimische Staranwalt Boris Lifschitz eine Möglichkeit: Im bernischen Strafgesetz existiert ein Artikel gegen «Schundliteratur». Dieser richtet sich zwar vor allem gegen Porno-Geschichten, aber einen Versuch ist es wert. Die Israelitische Kultusgemeinde Bern (heute Jüdische Gemeinde Bern) reicht Ende Juni 1933 Klage gegen die rechtsextreme Nationale Front und den Bund Nationalsozialistischer Eidgenossen ein.


Fünf Männer sind offiziell angeklagt, doch im Kern dreht sich der Prozess bis 1935 um die Frage: Sind die «Protokolle» tatsächlich ein Produkt von Geheimsitzungen eines mächtigen Zirkels von Juden, oder sind sie ein Pamphlet aus der antisemitischen Ecke, das dem Judentum Übermacht und Bösartigkeit nachweisen will? Was ist Wahrheit? Was ist Lüge? Das Berner Bezirksgericht wird ein Urteil fällen müssen, welcher Behauptung es Glauben schenkt. In der öffentlichen Wahrnehmung wird daraus ein Prozess zwischen Juden und Nazis auf Berner Boden.

Eine erste Verhandlungsrunde im November 1933 verläuft ergebnislos. Bis zur zweiten Verhandlung ab Ende Oktober 1934 haben die jüdischen Kläger fast 20 Zeugen aus Russland, Frankreich, Schweden, Rumänien, England, den Niederlanden und der Schweiz nach Bern eingeladen, damit diese über die Herkunft der «Protokolle» aussagen. Im grössten Gerichtssaal des Berner Amtshauses verfolgen über 200 Personen den Prozess, Journalisten der internationalen Presse stenografieren mit.

Ein Pamphlet des zaristischen Geheimdienstes

Entstanden seien die «Protokolle der Weisen von Zion» in den Pariser Büros des zaristischen Geheimdienstes Ochrana kurz vor 1900. Das geht aus den Zeugenaussagen hervor, die sich wie ein Puzzle zusammenfügen: Grosse Teile seien abgeschrieben worden aus dem Werk «Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu» des Franzosen Maurice Joly, geschrieben 1864 gegen den Machthunger Napoleons III., nun aber auf Juden umgemünzt. Nach 1901 seien die «Protokolle» nach Russland gelangt, wo sie bald der Anstiftung von Pogromen dienten.

Der Zürcher Nationalrat David Farbstein und der Londoner Chemieprofessor Chaim Weizmann – später Israels erster Staatspräsident – sagen über den ersten Zionistenkongress in Basel von 1897 im Zeugenstand: Die Sitzungen hätten ausschliesslich der Errichtung einer jüdischen Heimstätte gedient. Und nicht einer jüdischen Weltherrschaft.

Der Experte der Angeklagten hingegen, ein Frontist aus den eigenen Reihen, bemüht sich nicht einmal darum, das Gegenteil zu beweisen. Ihm reicht es, an die «Protokolle» zu glauben. Der Nachweis ihrer  Echtheit ist für ihn zweitrangig, der zunehmende Antisemitismus sei ihm Beleg genug. Schliesslich erhalten die Angeklagten Schützenhilfe aus dem Dritten Reich, von Ulrich Fleischhauer, Leiter der NS-Propagandamaschine «Weltdienst». Für seine Expertise verzögern sich die Gerichtsverhandlungen bis Mai 1935.

«Die Beklagten haben mit Schmutz um sich geworfen»

Mit Fleischhauers Auftritt im Berner Amtshaus erhält der Prozess eine neue Dimension, er wird auch in Hitlerdeutschland aufmerksam verfolgt. Er ist nicht mehr ein Prozess zwischen Berns jüdischer Gemeinde und Berner Nazis, sondern wird zum Prozess zwischen den Juden und dem «Dritten Reich» schlechthin. Während fünf Tagen breitet sich Fleischhauer über die «niedrigste Rasse» aus und fordert vor dem Berner Gericht die «totale, hundertprozentige Eliminierung der Juden, die nur durch ihre physische Vernichtung erreicht werden kann.»

«Die Beklagten haben mit Schmutz um sich geworfen und das Gericht für boshafteste Hetze benutzt, aber auch nicht den Hauch eines Beweises erbracht», entgegnet  Klägeranwalt Georges Brunschvig in seinem Plädoyer. «Färbt jüdisches Blut das Pflaster, so werden wir wieder hören, das ist die Schuld der Juden und nicht ihrer Mörder.»

Zwei Berner Gerichte:  Die «Protokolle» sind nicht «echt»

Dann, nach zweijährigem Prozess, folgt das Urteil: Am 14. Mai 1935 erklärt der Berner Gerichtspräsident Walter Meyer die «Protokolle» vor der Weltöffentlichkeit zur Schundliteratur. Allerdings spricht er nur zwei der fünf Angeklagten schuldig. Neben Bussen von 20 und 50 Franken müssen sie den grössten Teil der Staats- und Klägerkosten tragen. Die Verurteilten legen Berufung bei der nächsthöheren Instanz  ein.

Das Obergericht sieht es anders als die Vorinstanz:  Die «Protokolle» seien keine «Schundliteratur», urteilt es 1937 und spricht die verurteilten Nazis frei. Es bestätigt jedoch, dass die Frontisten die Echtheit der «Protokolle» nicht belegen konnten. Und es wirft die Frage auf, ob «absolut ungerechte Beschimpfungen und Besudelungen» unter dem Vorzeichen der Pressefreiheit zu tolerieren seien.


Im selben Jahr entwirft der Klägeranwalt Georges Brunschvig mit seiner Dissertation «Die Kollektiv-Ehrverletzung» eine erste Vorstufe der heutigen Antirassismus-Strafnorm.

Warum erinnern?

Der Berner Prozess  ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Die «Protokolle der Weisen von Zion» sind es aber keineswegs. Mehrfach sind seither antisemitische Werke in der Schweiz und weltweit erschienen, die sich an die «Protokolle» anlehnen – beispielsweise «Der Grosse Plan der Anonymen» in den Fünzigerjahren, eine Übersetzung aus dem Englischen, herausgegeben von James Schwarzenbach, der später die Überfremdungs-Initiative lancierte.

Diese Weltverschwörungstheorie ist nach wie vor in zahlreichen Sprachen im Umlauf. Anfällig sind Kreise aus allen politischen Parteien, man braucht kein Extremist zu sein. Anstelle der «Juden» sind je nach Variation die «Zionisten» oder der «Mossad» am Schalthebel der Macht. Wieder Aufwind bekommen hat das Storytelling der Weltverschwörung kürzlich etwa bei Corona-Leugner*innen. Zwar bleibt das Wort «jüdisch» oft aus, doch die Legende hat antisemitische Wurzeln. Das hat der Berner Prozess vor 90 Jahren geklärt. Und darin liegt seine Bedeutung im Kampf gegen den Antisemitismus bis heute.

 

* Hannah Einhaus ist Journalistin und promovierte Historikerin. Sie hat über den Berner Anwalt Georges Brunschvig die Biografie «Für Recht und Würde» veröffentlicht.