Was wir gerne vergessen: Zum Vergnügen auf Berge steigen, über einen Grat wandern, von einem Gipfel aus genüsslich die Welt betrachten – das wäre im Alten Orient niemand in den Sinn gekommen.
Zwar ist die Heimat des Volkes Israel, die Wiege des Christentums eine gebirgige Gegend, der Sinai, die Berge und Hügel Galiläas, die Golanhöhen, das Hermongebirge prägen die Landschaften, aber Ausflugsziele waren das keineswegs.
Wie in vielen anderen Gegenden der Erde waren auch hier Berge zu allen Zeiten ein wichtiges Element in Religion und Kultur. Hohe Gipfel oder Bergkämme schienen den Menschen jedoch unerreichbar weit weg, als geheimnisvolle Orte zwischen Himmel und Erde wurden sie als Sitz von Göttern, später als Sitz Gottes interpretiert.
Man betrachtete die Berggipfel als Orte besonderer Gottesnähe und errichtete dort, wo sie zugänglich waren, im Lauf der Zeit Kultplätze und Opferaltäre.
Im Alten Testament finden wir unzählige Stellen, die von Tätigkeiten auf Bergen berichten: Nach der Sintflut läuft Noahs Arche im Ararat-Gebirge auf Festland auf (Gen 8,4), Abraham muss mit seinem Sohn Isaak auf einen Berg steigen, um ihn zu opfern (Gen 22, 1-19), Mose steigt einige Male auf den Gottesberg und wieder hinunter, um dann schliesslich von Gott die zehn Gebote für sein Volk zu erhalten (Ex 20).
Der Berg Zion bei Jerusalem spielt in den Psalmen und Prophetenbüchern eine wichtige Rolle: Dort wurde die Bundeslade aufbewahrt, dort begegnen sich Himmel und Erde und Gott den Menschen. Der Prophet Habakuk beschreibt das so: „Gott kommt von Teman her, der Heilige kommt vom Gebirge Paran. Seine Hoheit überstrahlt den Himmel, sein Ruhm erfüllt die Erde. Gott der Herr ist meine Kraft. Er macht meine Füsse schnell wie die Füsse der Hirsche und lässt mich schreiten auf den Höhen“ (Hab 3, 3.19).
Wer weiss, ob bei all unserem freudigen Wandern in den Bergen, beim Auftanken in der Höhenluft und Geniessen der Aussicht nicht auch die Sehnsucht nach Gottesbegegnung eine grössere Rolle spielt als wir meinen…
Marie-Louise Beyeler