Teil 1

Von Bannzapfen, Kruzifix und Pestfenster

Deutungen merkwürdiger Phänomene in volkstümlicher Überlieferung und Forschung

Wer sich mit ländlichen Bauten beschäftigt, wird – früher oder später – mit seltsamen Gegenständen oder mit alltäglichen Dingen an unerwarteten Orten konfrontiert, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben. Vielfach bleiben nur Mutmassungen und mehr oder weniger einleuchtende Erzählungen. Es geht um Bann- und Schutzmassnahmen, die Haus, Mensch und Tier vor Schaden, Zauber und Hexerei bewahren sollen, aber auch um Leid, Neid und Hoffnung – und um Segenswünsche.

von Benno Furrer

Während ein Kruzifix an der Hauswand oder ein Bibelspruch über der Pforte offensichtlich erkennbare Hinweise auf eine religiöse Haltung oder Verhaltensweise geben, sind eine Vielzahl anderer Dinge, etwa ein Tierschädel unter dem Dach, eine mumifizierte Katze unter der Türschwelle oder ein Pflock in der Holzwand zunächst einmal nicht oder kaum wahrnehmbar und in der Regel auch nicht schlüssig zu erklären.

Blitz und Donner wirken auch auf moderne, aufgeklärte Menschen etwas unheimlich und bedrohlich. Umso mehr mussten Bauern in früheren Jahrhunderten einen Blitzschlag in Haus oder Scheune gefürchtet haben, in einer Zeit, als Blitzableiter und Feuerversicherung noch nicht bestanden haben.

Im Berner Mittelland und überall dort, wo Haus und Scheune mit Stroh eingedeckt wurden, suchte man diese zu schützen: mit sogenannten «Toggeli» (puppenartigen Strohwischen auf beiden Firstenden), durch das Anpflanzen eines Holunderstrauchs, durch Aufhängen eines Schädels oder gar eines ganzen Tieres am Firstbaum.

Aus Sumiswald (BE) und Wolfwil (SO) sind solche Beispiele dokumentiert und aufgrund der Aussagen der Hausbewohner tatsächlich mit dem beabsichtigten Schutz vor Blitzschlag in Verbindung zu bringen. Aus Saanen (BE) wird in einer volkskundlichen Befragung um 1930 berichtet, «eine Kröte werde gespiesst und tot in einem alten Schuh auf den Dielbaum gelegt, oder sie werde erwürgt und an einer Schnur in den Stall gehängt.»

In katholischen Regionen behalf man sich mit gesegneten Stechpalmen oder Medaillons, die irgendwo im Dachraum deponiert wurden. Tatsächlich sind bei sorgfältigen Hausabbrüchen auch Katzen unter der gemauerten Herdstelle oder der Türschwelle zu finden, die offensichtlich dort – tot oder lebendig – begraben worden sind.
Da es sich aufgrund der Fundumstände nachweislich nicht um zufällige Todesfälle handelt, etwa, dass sich die Tiere dorthin zurückgezogen haben und dann gestorben sind, muss man von bewussten Handlungen durch Menschen ausgehen. Über die Hintergründe (beabsichtigte Schutz- oder Bannwirkung) kann jedoch nur gemutmasst werden. Im solothurnischen Gunzgen beispielsweise legte man Knochen von Haustieren unter die Schwelle des Hauseingangs zum Schutz gegen Krankheiten, Pest oder sonstige Seuchen.

Aus Saanen wird in einer volkskundlichen Befragung um 1930 berichtet, «eine Kröte werde gespisst und tot in einem alten Schuh auf den Dielbaum gelegt oder sie werde erwürgt und an einer Schnur in den Stall gehängt». In katholischen Regionen behalf man sich mit gesegneten Stechpalmen oder Medaillons, die irgendwo im Dachraum deponiert wurden. Tatsächlich sind bei sorgfältigen Hausabbrüchen auch Katzen unter der gemauerten Herdstelle oder der Türschwelle zu finden, die offensichtlich dort – tot oder lebendig – begraben wurden. Da es sich aufgrund der Fundumstände nachweislich nicht um zufällige Todesfälle handelt, etwa, dass sich die Tiere dorthin zurückgezogen haben und dann gestorben sind, muss man von bewussten Handlungen durch Menschen ausgehen. Über die Hintergründe (beabsichtigter Schutz- oder Bannwirkung) kann jedoch nur gemutmasst werden. Im solothurnischen Gunzgen beispielsweise legte man Knochen von Haustieren unter die Schwelle des Hauseingangs zum Schutz gegen «Krankheiten, Pest oder sonstige Seuchen».

 

Persönliche Anliegen – Fluch, Bann, Segen

Bei der Renovation einer Bauernstube findet man nach dem Entfernen der jüngeren Wandoberflächen nicht selten seltsame, ungeordnete Löcher in der Holzwand. Diese, meist mit einem Durchmesser von eineinhalb bis drei Zentimeter grossen Löcher können offen oder mit einem Zapfen verschlossen sein. Ein bautechnischer Zusammenhang besteht dabei nicht. Es handelt sich also nicht um die Spuren einer mit Dübeln oder Holznägeln befestigten Verstrebung im Gerüstbau oder um einen einfachen Holzzapfen für das Aufhängen von Kleidern oder Kochutensilien.
Beim Entfernen solcher Holzzapfen kommen manchmal kleine Gegenstände zum Vorschein: ein menschlicher Zahn, Haarbüschel, ein Papierstreifen mit Versen des Johannes Evangeliums, ein Fläschchen mit Flüssigkeit und anderes mehr, wie zum Beispiel Wurzelfasern des Allermannsharnisch, einer Pflanze, die als Zauber- und Heilpflanze gilt. Wenn gar eine ausgetrocknete Spinne zum Vor-schein kommt, denken wir natürlich gleich an Gottfried Kellers Roman «Die schwarze Spinne».

Der Bauernhausforscher Robert Tuor notierte 1977 in Sumiswald (BE) als Erklärung für ein unter dem Dach aufgehängtes Kalb: «Vor 200 Jahren sollen viele Kühe gestorben sein, daher habe man zur ‹Bannisation› eines der Tiere in den First gehängt.» Im Berner Jura wie auch in den benachbarten Kantonen Jura und Solothurn oder im französischen Departement Jura sowie Haut-Rhin (Elsass) finden sich Steinkugeln, zum Teil mit Fratzen darauf, in den gemauerten Hausecken. Sie werden allgemein als Schutzsymbole gewertet, Genaueres ist aber nicht bekannt.

Die geistliche Hilfe von Kapuzinern nahm man nicht nur in katholischen, sondern auch in reformierten Gegenden gern in Anspruch, wenn es um die Bannung von vermeintlichen Teufeln und Dämonen ging. Allerdings bleiben die genauen persönlichen Umstände, ob ein persönliches Anliegen die Abwehr von Krankheit oder die Bannung von echten oder vermeintlich bösen Wünschen von Nachbarn oder Dorfleuten Anlass für diese Handlungen waren, wohl für immer verborgen – und das ist auch gut so.

 

Volksglaube versus wissenschaftliche Deutung

Für einige Bauelemente und Handlungsweisen, die im Volksmund beispielsweise als «Pestfenster», «Seelenbalken» bezeichnet werden oder die angeblich zur Bannung von Hexen gedient haben, kann die Forschung unspektakuläre Erklärungen geben. In einigen Bauernhäusern der Zentralschweiz finden sich Innenfenster, Wandöffnungen von der Stube in den Hausgang oder die Küche. Sie sind aber oft zugemauert oder mit Brettern verschlossen, jedenfalls ausser Gebrauch. Die Hausbewohner erzählen vom «Pestfenster»; man habe in Zeiten von Pestepidemien die kranken Menschen in der Stube eingeschlossen und ihnen durch diese Öffnung Nahrung, Wasser oder die Krankensalbung gegeben.

Nun konnte aber im Projekt Bauernhausforschung nachgewiesen werden, dass die ältesten, sogenannten Pestfenster bereits in Häusern vorkommen, die vor 1348 erbaut worden sind, zu einer Zeit, als die Pest in Europa noch gar nicht verbreitet war. Einzelne Pestfenster weisen einen hölzernen Fensterladen mit stubenseitigem Verschluss und genuteten Wandbrettern auf der Gangseite auf. Aus medizinischer Sicht starben mit Beulenpest infizierte Menschen innerhalb von wenigen Tagen und litten grosse Schmerzen. Eine Versorgung der Kranken über solche Fenster macht keinen Sinn. Letztlich handelt es sich dabei um Relikte früherer Wandschränke, die ab dem 15. Jahrhundert mehr und mehr durch wandfeste Büffets ersetzt worden sind. Die ehemaligen, nun nicht mehr benötigten Wandschränke verschwanden einfach hinter dem neuen Möbelstück und gerieten in Vergessenheit.

 

Etwas Ähnliches widerfuhr den «Seelenfenstern», kleinen Luken in der Wand von Schlafkammern. J.R. Stoffel beschrieb im bündnerischen Dorf Juf ein solche mit einem Brett verschlossene Öffnung in der Kammerwand eines Hauses, deren Bedeutung Einheimische folgendermassen erklärten: «Die Ange- hörigen glaubten, dem Sterbenden den Hinschied zu erleichtern, indem sie den ‹Seelabalgga› frühzeitig öffneten.»

Auch bei osteuropäischen Völkern waren ähnliche Riten bekannt. Gustav Ränk schrieb 1949: «Bei den Russen wurde während dem Todeskampf oder auch sofort nach dem letzten Atemzug des Sterbenden ein Balken oder ein Brett über der Tür oder in der Decke weggeschoben, damit die Seele leichter fortfliegen könne. In jüngerer Zeit habe ziemlich allgemein eines der Stubenfenster, gewöhnlich dasjenige neben der Hinterecke, dem Herrgottswinkel, die Aufgabe der ‹Seelentür› erfüllt.»

Mittlerweile kennt man in der Bauernhausforschung mehrere Dutzend spätmittelalterliche Wohnhäuser mit solchen Luken, die mit einem passenden Brettchen verschlossen werden konnten. Sie bildeten schlicht den damaligen technischen Stand der Fensteröffnungen, da bezahlbares Fensterglas noch nicht zur Verfügung stand.

Richtig scheint mir aber, dass beide Erklärungen, die volkstümliche und die wissenschaftliche, nebeneinander bestehen – als Teil von Kultur und Forschung.

 

Eigenartig berührt: Forschungserlebnisse

Das Thema Verpflöckung, Bannzapfen, Seelen- oder Pestfenster hat mich als Bauernhausforscher eigenartig berührt. Einerseits bin ich ein «aufgeklärter Zeitgenosse» und kann rational vieles «erklären». Andererseits bin ich als Forscher in einer verzwickten Situation. Ich will ja erfahren, wie die Hausbewohner diese Phänomene benennen und allenfalls erklären. Meine Meinung dazu ist im Gespräch mit den Leuten nicht relevant bzw. sogar fehl am Platz.

Sonst geht es so wie bei der Geschichte mit dem Seelenfenster und der Walserwanderung. Es gibt bloss ein Haus in Avers-Cresta (GR), wo Hausbewohner dem Forscher Johann Rudolf Stoffel 1938 erzählten, die Luke in der Kammerwand wäre ein Seelenfenster, ein «Seelabalgga». Man hat es geöffnet, wenn sich eine sterbende Person in dieser Kammer befand. Stoffel interessierte sich dafür, ob der «Seelabalgga» auch in anderen Häusern Graubündens bekannt war. Wen immer er fragte, niemand schien damals etwas von einem «Seelabalgga» gehört zu haben. Auch Nachforschungen im Wallis, vor allem in Walser-Siedlungen in den Kantonen Tessin und Graubünden blieben erfolglos.

Andere Forscher hingegen sahen später darin ein Erkennungsmerkmal für das typische Walserhaus. Mit der Zeit wurden jene Häuser, die eine solche Luke aufwiesen – egal, ob im Keller oder in der Dachkammer, ob in der Hauswand oder in einer Türe –, zu einem von Walsern erbauten Haus erklärt. Das heisst für mich, den Hausbewohnenden keine Suggestivfragen zu stellen, etwa in der Art: «Das ist doch ein Seelenfenster, Pestfenster, Bannzapfen – oder?» Sonst läuft man in Gefahr, vorgefasste Meinungen zu bestätigen.
Grundsätzlich habe ich bei vielen Hausbesuchen den Eindruck gewonnen, dass die Menschen Deutungen weitererzählen, ohne davon überzeugt zu sein, oder sie haben vielleicht darüber gelesen.

Die Geschichte mit dem angeblichen Pestfenster hatte ich als Anfänger in der Bauernhausforschung so übernommen und mir gedacht: Was waren die Leute damals für Fatalisten – bauen sie doch gleich von Anfang an eine Luke ein, über die sie versorgt werden können, falls wieder eine Pestepidemie auftritt – und die kommt ja bestimmt …

Die in Zapfenlöchern oder Schwundrissen zu findenden Zähne lassen sich auch nicht ohne Weiteres als «magische» Handlung deuten. Wurden sie einfach aufbewahrt, so wie ich meinen ersten eignen Milchzahn in eine Streichholzschachtel gelegt hatte, weil es ein so faszinierendes, «schauerliches» Ereignis war? Oder wollten die Leute einen weiteren Verlust von Zähnen oder allenfalls Zahnschmerzen «bannen»?
Viele solcher Hand lungen, deren Spuren überdauert haben, waren sehr persönlich motiviert. Aufge- schrieben hat man das nicht, und die Zeit, die zwischen der Handlung und heute verflossen ist, ist zu lang.

Literatur

  • Atlas der schweizerischen Volkskunde, Zweiter Teil, 8. Lieferung. Frage 138, Kommentar S. 785–817. Basel 1979.
  • Heinrich Christoph Affolter. Die Bauernhäuser des Kantons Bern, Band 2, das höheres Berner Mittelland, Basel 2001, S. 441–443 (Die Bauernhäuser der Schweiz, Bd. 30.1).
  • Isabelle Roland. Les maisons rurales du Canton de Berne, tome 4.2, p. 385–387 (Les maisons rurales de Suisse, vol. 30.2).
  • Ernst Brunner. Die Bauernhäuser des Kantons Luzern. Luzern 1977 (Die Bauernhäuser der Schweiz, Bd. 6).
  • Benno Furrer. Ein Toggel auf dem Dach. Das Nützliche mit dem Praktischen verbinden. In: Geschäftsbericht 2002 Aargauischen Gebäudeversicherungsanstalt, Aarau 2002, S. 58.
  • Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Heft 25 (1924/25) S. 242.

Der promovierte Geograf Benno Furrer ist seit 1989 wissenschaftlicher Leiter der Schweizerischen Bauernhausforschung. Seit den 1960er Jahren werden in der Schweiz Bauernhäuser wissenschaftlich erforscht. Die Ergebnisse wurden in der Buchreihe «Bauernhäuser der Schweiz» publiziert, die beiden letzten Bände erschienen in diesem Jahr.
Neben weiteren Engagements ist Benno Furrer Vizepräsident der Denkmalpflegekommission des Kantons Zürich (seit 2005).

1980 war ich in einem Bauernhaus in Spiringen (UR) aus dem Jahre 1577. In einer Kammer sah ich an der Seitenwand des Kachelofens eine Sense, darunter ein Bündel Knochen. Ich fragte den Bauern vorsichtig, was das für Knochen wären. Er zuckte nur mit den Schultern. Eine spätere Analyse der Gebeine durch ein anthropologisches Institut ergab, dass es sich um Knochen von Schafen handeln musste. Ob Sense und Knochen rein zufällig im Zimmer hinter dem Ofen standen oder ob damit eine Absicht verbunden war, weiss ich bis heute nicht.