
Davidstern auf der Kapelle des Weissenseefriedhofs in Berlin. Heute gibt es wieder jüdisches Leben in Europa. Die Unsicherheit ist geblieben. Foto: J. Jager/iStock
Antisemitismus heute: Vorbei ist nicht vorbei
Vor 80 Jahren endete der Völkermord an europäischen Juden und Jüdinnen. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel und dem Gaza-Krieg ist die Zahl antisemitischer Vorfälle stark gestiegen. Juden und Jüdinnen berichten, wie sie Antisemitismus heute erleben.
Christiane Faschon*
80 Jahre nach dem Ende der Shoah ist Antisemitismus in Europa – auch in der Schweiz – eine Realität. Das zeigen Gespräche mit jüdischen Menschen, die nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 Übergriffe erfahren haben. Für sie folgte auf den Schock des Massakers in Israel der Schock der Ablehnung durch die eigenen Nachbarn und Freundinnen.
Zeitenwende
Fragt man Juden und Jüdinnen, wie sie den 7. Oktober 2023 erlebt haben, antworten sie oft emotional. Tom** (63) erfuhr von dem Massaker aus den Sozialen Medien. «Obwohl ich versucht habe, mich von Bildern und Videos abzuschirmen, hatte ich lange Schlafstörungen», erzählt er. Myriam (43) hat durch SMS vom Überfall erfahren. «Ich wollte jedoch, dass mein Kind einen schönen Geburtstag erlebt, und habe darum alles weggeschoben. Abends und nachts habe ich versucht herauszufinden, wie es meinen Freundinnen und Freunden in Israel geht.»
David (50) war fassungslos von der unvorstellbaren Brutalität des Massakers. Anna (71) ihrerseits telefonierte mit Freund:innen in Israel und las viele Medienberichte. Während offizielle Stellen nach dem 7. Oktober Israel Mitgefühl bekundeten, seien Nachfragen aus dem eigenen Bekanntenkreis eher ausgeblieben.
Tom berichtet von einer Retraumatisierung; dies trotz 15 Jahren Auseinandersetzung mit der Verfolgung seiner Familie unter den Nazis. «Ich war überzeugt, ich könne mit jeder Art Gräuel umgehen. Jetzt weiss ich, dass es nicht stimmt.» Seine nichtjüdische Frau sei erstaunt über seine heftige Reaktion gewesen, die Söhne zeigten sich weniger betroffen.
In Myriams Familie waren alle entsetzt und «klebten an den Nachrichten. Wir versuchten den Hass auf uns zu verstehen». «Wir waren alle in der Familie erschlagen und trauerten», erzählt auch David. Er fühle sich an die 1930er Jahre erinnert.

Umfeld geht auf Distanz
Alle Interviewten haben ein bildungsbürgerliches Umfeld. Dieses habe sich schnell mit Gaza solidarisiert. Das berichtet Tom, der sich in Ärztekreisen und Menschenrechtsorganisationen bewegt. Der HamasTerror als Auslöser des Krieges sei dort kein Thema gewesen.
Auch Anna erlebte, dass Freund:innen aus ihrem eher linken akademischen Umfeld, aus Frauenorganisationen und den Kirchen auf Abstand gingen und israelkritische Positionen bezogen. Als Myriam, beruflich in der Schweiz und in Berlin tätig, jüdischen Mitarbeitenden im unternehmensinternen Chat eine Kontaktmöglichkeit anbieten will, schreitet die Leitung ein. Die Begründung: Man könne sie nicht vor möglichen Attacken schützen und müsse politisch neutral sein. Aber es wird auch die Befürchtung geäussert, dass Kunden abspringen könnten, falls bekannt würde, dass es jüdische Personen im Führungsteam gebe.
Antisemitismus wächst
Dass die Erfahrungen der Interviewten keine Ausnahmen sind, zeigt auch der Schweizer Antisemitismusbericht 2023. Dieser registrierte einen massiven Anstieg antisemitischer Vorfällen nach dem 7. Oktober. Besonders erschreckend: Die Täter:innen kommen nicht nur von den Rändern, sondern auch aus der Mitte der Gesellschaft.
Auch Myriam hat das erlebt. Sie wohnt in einem Mehrfamilienhaus in Berlin zusammen mit einer israelischen Familie. 2024 hatten die Hausbewohner:innen drei Mal Polizeibesuch. Sie berichtet, dass Unbekannte rote Dreiecke an die Haustür gesprayt hatten. Mit diesem Symbol kennzeichnet die Hamas ihre Angriffsziele. An manchen Orten trägt sie den Davidsstern nicht mehr offen. David sagt, er beobachte bereits seit zehn Jahren einen wachsenden Antisemitismus, besonders in den Sozialen Medien.
Als Zürcher Lokalpolitiker erlebe er, dass linke Parteien sich gegen Rassismus, aber nicht gegen Antisemitismus engagieren. Als er am 9. Oktober 2023 in Zürich mit einer Gruppe Zettel mit Hinweisen auf das Massaker verteilte, wurden sie beschimpft. Eine ältere Frau sei von Passanten angespuckt worden. Und Anna, seit vielen Jahren Kirchenmitarbeiterin in der Schweiz, berichtete, dass sie jetzt auch in gewissen Kirchenkreisen als Jüdin definiert werde. Da heisse es dann «deine Leute», wenn es um Israel gehe.

Wir werden wieder tanzen
Die Aussage des Pianisten Igor Levit: «Ich habe mich noch nie so jüdisch gefühlt», können alle Gesprächspartner:innen nachvollziehen. Tom ist nach dem 7. Oktober in die jüdische Gemeinde eingetreten, obwohl er Agnostiker ist. David trifft sich in einer Gruppe namens «Jews Anonymous», um sich mit anderen über seine Erfahrungen auszutauschen.
Auch Anna und Tom haben sich einer Gruppe angeschlossen, man trifft sich digital und grenzüberschreitend via Zoom. Anna sah sich lange als Brücke zwischen Judentum und christlichen Kirchen; ihr gehe nun die Luft aus. Heimat findet auch sie bei Jüdinnen und Juden, die ähnliches erleben wie sie. Alle Befragten engagieren sich aktiv gegen Hass. Anna gibt zum Beispiel Workshops zu Antisemitismus und berichtet wie David in Schulen über die NaziVerfolgung ihrer Familie. Sie ermutigen sich gegenseitig in Erinnerung an die Ermordeten des Festivals mit dem Slogan: «Wir werden wieder tanzen.»
* Christiane Faschon, Theologin und Journalistin BR, stammt aus einer Familie mit Shoah-Überlebenden.
** Alle vier Personen, die in diesem Beitrag über ihre Erfahrungen mit Antisemitismus sprechen, fürchten sich vor Repressionen. Ihre Namen sind der Redaktion bekannt und wurden im Text deshalb geändert: Myriam, 43, Unternehmerin, Berlin/Schweiz Tom, 63, Kinderarzt, Bayern David, 50, Politikwissenschaftler, internationale jüdische Organisation, Zürich Anna, 71, Kirchenmitarbeiterin, Schweiz