Auch in der reformierten Kirche muss die Scham die Seite wechseln

SRF-Perspektiven hat sich am Sonntag dem Thema «Sexuelle Übergriffe im Umfeld der reformierten Kirche» gewidmet. Die Aufarbeitung steht dort noch am Anfang.

Das Jahr 2024 brachte ein unschönes Erwachen für evangelische Christen in Deutschland und der Schweiz. Eine umfassende Studie der EKD zeigte, dass sexueller Missbrauch auch in evangelischen Kirchen weit verbreitet ist – und das trotz des Fehlens eines Zölibats oder einer restriktiven Sexualmoral. Die SRF-2-Sendung «Perspektiven» beleuchtete dieses Thema in der Folge vom 26. Januar.

Familie und Kirche

Frau W. wird als Kleinkind sexuell missbraucht – von ihrem Grossvater, einem Kirchenpfleger. Es sind die 1960er-Jahre, die Zeit der Volkskirche, in der die Landeskirchen Teil der gesellschaftlichen Ordnung sind. Der Grossvater ist in seiner Gemeinde eine Respektsperson, ein Wohltäter und angesehener Christ. Niemand hinterfragt, was er tut – weder in der Gemeinde noch in der Familie. Jahrzehnte später stellt sich heraus: er hat bereits die Mutter von Frau W. missbraucht.
 

Der Grossteil sexueller Übergriffe findet innerhalb von Familien statt. Doch die Schnittstelle zwischen Kirche und Familie ist ein bedeutsames Moment, besonders in der reformierten Kirche. Laut Frau W. diente die Kirche ihrem Grossvater als Fassade, die ihn vor kritischen Nachfragen schützte.

Reformierte Anlaufstelle: Sabine Scheuter

Die Zürcher Pfarrerin Sabine Scheuter ist die zentrale Anlaufstelle der Reformierten Kirche im Kanton Zürich für Fragen zu Missbrauchsfällen. Sie weiss, dass das Umfeld der Kirche Übergriffe begünstigen kann – sei es durch die Nähe, die in der Seelsorge entsteht, oder durch das ausgeprägte Harmoniebedürfnis und ein Menschenbild, das die guten Absichten Einzelner selten hinterfragt.
 


Scheuter ist nicht überrascht, dass Missbrauch vor allem mit der römisch-katholischen Kirche assoziiert wird. Dort existieren klare Hierarchien, ein innerkirchliches Rechtssystem und der Zölibat. Dennoch betont sie: «Wenn die katholische Kirche ein Problem hat, heisst das nicht, dass die reformierte Kirche keines hat.» Jedes System, das mit Nähe arbeitet, sei ein Risikosystem, so Scheuter.

Einzelfälle?

Handelt es sich bei den Meldungen um Einzelfälle, wie viele in der reformierten Kirche glauben möchten? Das wisse man nicht, sagt Scheuter, da es keine umfassenden Studien und somit keine verlässlichen Zahlen gebe. Tatsächlich hat die Synode der EKS im Sommer 2024 eine gross angelegte Studie abgelehnt. Stattdessen wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die einen Verhaltenskodex erarbeiten soll. Doch belastbare Zahlen fehlen weiterhin.

Scheuter räumt ein, dass die EKD-Studie in Deutschland gezeigt habe, dass Missbrauch in der evangelischen Kirche weiter verbreitet war, als lange angenommen. In der Schweiz dürfte dies ähnlich sein, auch wenn die reformierten Kirchen hier keine Heime betrieben haben. Die protestantische Hoffnung, dass Missbrauch im kirchlichen Umfeld ausschliesslich ein katholisches Problem sei, hat sich nicht bestätigt.

Kommt eine reformierte Studie?

Stephan Jütte, Sprecher der EKS, sagte am Sonntag (26.1.) gegenüber dem «pfarrblatt»: «Die EKS und ihre Mitgliederkirchen haben das Thema seit längerer Zeit auf dem Radar. Bereits 2022 wurden der Synode erste Massnahmen zur Koordinierung des Vorgehens vorgelegt. Täter nutzen die Voraussetzung ihrer Umgebung, um Vertrauen zu misssbrauchen. Das gilt auch für den reformierten Kontext. Diese Mechanismen zu kennen, ist entscheidend für Präventionsmassnahmen. Dazu brauchen wir die Aufarbeitung und Koordination unter den Mitgliederkirchen».

Wie es konkret weitergeht, ist unklar – ob eine Studie doch noch kommt und, wenn ja, wann. Der Kulturwandel beginnt in der reformierten Kirche erst. Auch hier muss gelernt werden, dass die Scham die Seite wechseln muss. Der Weg dahin ist lang. (ALM)