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Anderthalb Millionen bunte Glasperlen symbolisieren die während der Shoa ermordeten Kinder. Foto: Eve Stockhammer
Ausstellung im Haus der Religionen: Das Unfassbare begreifen
Ein Vorhang, zwölf Meter breit und zwei Meter hoch, bestehend aus anderthalb Millionen bunter Glasperlen, will erinnern und ermahnen. Ein Museumsrundgang.
Theresia Mühlemann-Bänninger*
Unzählige bunte, glänzende Perlen, Strang um Strang, reihen sich aneinander. Wer das Foyer des «Haus der Religionen – Dialog der Kulturen» betritt, dessen Blick verfängt sich unweigerlich in diesem farbigen Glitzern, dem Spiel des Luftzugs mit den leichten Perlenschnüren. Erfährt man jedoch, wofür die Perlen stehen, wird man still.
Ein Jahr lang haben die Mitglieder des interreligiösen Kollektivs «Jiskor», einer Gruppe von 25 Personen, die alle einen eigenen Bezug zur Shoa und zum Judentum haben, unter der Leitung der Berner Künstlerin Eve Stockhammer Perle um Perle aufgefädelt. Sie arbeiteten täglich daran, alleine oder in der Gruppe, meist schweigend und in eigene Gedanken versunken. Jede einzelne, filigrane Perle symbolisiert das Leben eines der 1 500 000 Kinder, dem während der Shoa ein brutales Ende gesetzt wurde.
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«Die meisten dieser Kinder sind komplett vergessen, klein und lautlos in dieser Zahl begraben. Von anderen gibt es vereinzelt Fotos, vielleicht auch Namen und wenige Daten zu ihrem Leben», so Eve Stockhammer. Nun erinnern anderthalb Millionen Glasperlen auf 1200 Perlensträngen an sie. Auf diese Weise bekommen sie einen Platz und werden sichtbar. Sechs handgeschmiedete Davidsterne stehen für die insgesamt sechs Millionen ermordeter Jüdinnen und Juden. Fünf münzgrosse Räder weisen zudem auf rund eine halbe Million ebenfalls ermordeter Sinti und Roma hin.
Jiskor, das ist das jüdische Trauer- und Gedenkgebet, das zu verschiedenen Anlässen im jüdischen Jahreskreis im Andenken an die Verstorbenen gesprochen wird. In diesem Jahr hat das Erinnern einen besonderen Grund. 80 Jahre sind vergangen, seit das Vernichtungslager Auschwitz befreit wurde.
Seit Jahren trage die Künstlerin und Psychiaterin Eve Stockhammer, die in ihrer eigenen Familienbiographie ebenfalls Opfer der Shoa zu beklagen hat, die Frage mit sich herum, ob die Kunst helfen könnte, dem Unfassbaren etwas entgegenzuhalten. So sei die Idee entstanden, den verlorenen Kinderleben, jedem einzelnen, so fein und zerbrechlich wie eine Glasperle, mit einem raumfüllenden Vorhang zu gedenken.
Am 2. Februar wurde die Ausstellung des Vorhangs im Haus der Religionen mit einer Vernissage eröffnet, dies in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde Bern. Den Anlass moderierte die stellvertretende Programmleiterin Noëmi Knoch mit wichtigem Kontext zum Werk. Umrahmt wurde das Programm von Freejazz-Musiker Omri Ziegele, der die Thematik der Trauer und Verzweiflung in seinen Stücken wiedergab.
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Eine kunsthistorische Werkeinführung gab es von Axel Langer, Kurator des Rietberg Museums in Zürich. Er interpretierte auf tiefsinnige Weise die verschiedenen Aspekte des Werks. Der Vorhang, der sowohl in einer Reihe als auch kreisförmig angeordnet werden kann, und so einen Davidstern ergibt, eröffne einen «heilen Raum, einen heiligen Raum, in dem wir uns erinnern können», so eine seiner Assoziationen. Es kamen auch die Mitglieder der Jiskor-Gruppe zu Wort. Sie erzählten, was die Arbeit am Vorhang, das Ergreifen und Auffädeln der einzelnen Perlen, in ihnen ausgelöst hatte. Auf diese Art mit jeder Perle das Schicksal eines Kindes in den Fingern zu halten, sei traurig und zugleich feierlich und friedlich gewesen, sagte eine von ihnen. Eine andere Frau habe in Gedanken jeder Perle einen Namen gegeben, um so jedes einzelne Kind zu würdigen.
Das erschreckende Massaker vom 7. Oktober 2023 in Israel, bei dem über 1200 Menschen getötet und zahlreiche in Geiselhaft genommen wurden, überschattete die Arbeit am Vorhang. «Unsere Warnung vor Antisemitismus mit Blick in die Vergangenheit wurde vom Schrecken der Gegenwart eingeholt», so eine der Frauen der Jiskor-Gruppe.
So stehe der Vorhang nicht nur für das Erinnern, sondern sei zugleich auch ein Mahnmal für die Zukunft. Für Eve Stockhammer ist klar, dass es gerade auch in der heutigen Zeit wichtig ist, auf diese Weise ein Zeichen zu setzen. «Die weltweite Antwort auf das Massaker in Form eines explosionsartigen Anstiegs des Judenhasses hat gezeigt, dass es nicht vorbei ist. Die Shoa zeigt auf, wohin Antisemitismus führen kann. Sie darf niemals vergessen, relativiert oder nivelliert werden.»
*Theresia Mühlemann-Bänninger ist freie Journalistin.
«Jiskor – für jedes Kind eine Perle»
Installation der Jiskor-Gruppe unter der Leitung der Künstlerin Eve Stockhammer, Haus der Religionen, Europaplatz, 3008 Bern, die Ausstellung kann bis Juni 2025 jeweils Dienstag bis Samstag von 9 bis 17 Uhr besucht werden.